Rezension von Dorothea Körner


 

Außenseiter, unfreiwillig

Marcel Reich-Ranicki: Mein Leben
Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 1999, 566 S.
 

Marcel Reich-Ranicki ist ein Medienstar, seine Autobiographie wurde ein Bestseller, innerhalb von vier Monaten erschienen neun Auflagen. Falls die Leser erwartet haben, Einblicke in den Literaturbetrieb und in die Interna berühmter Autoren, den Klatsch der Schriftstellerzunft zu erhalten, werden sie enttäuscht. Über die zahlreichen Kontakte des Kritikers zu seinen Autoren ist in dem von Jochen Hieber herausgegebenen Briefwechsel mit Reich-Ranicki Farbigeres und Vielseitigeres zu erfahren. Das vorliegende Buch korrespondiert in manchen Aussagen mit der Briefausgabe, bezieht sich auf einzelne Zuschriften oder ergänzt sie durch Reich-Ranickis Sicht. Natürlich erfährt man Wesentliches über die Gruppe 47, Grass und Ingeborg Bachmann, Walter Jens und Heinrich Böll, Canetti, Thomas Bernhard und Max Frisch. Der Wert dieser Autobiographie scheint mir aber vor allem darin zu liegen, daß hier ein deutscher Jude von seiner Berliner Gymnasialzeit während des „Dritten Reiches”, von den Zuständen und dem Lebensgefühl im Warschauer Ghetto, von seinem Überleben dank eines polnischen Ehepaares, von seiner inneren Heimatlosigkeit, seiner unausrottbaren Liebe zur deutschen Literatur und seiner lebenslangen Angst vor deutscher Barbarei berichtet.

Reich-Ranicki schreibt, wie er spricht, man glaubt ihn manchmal direkt zu hören. Er schreibt keine literarisch ehrgeizige Prosa, sondern genaue, schmucklose, den Fakten verpflichtete Sätze und kurze, auf den Punkt - vielleicht manchmal auf die Formel - gebrachte Charakterisierungen von Menschen, wozu übrigens auch köstliche Anekdoten gehören. Kindheit und Jugend in Polen und der Weimarer Republik, besonders aber während Hitlers Herrschaft über Europa, einer Zeit der zunehmenden Isolierung des jüdischen Gymnasiasten, schließlich der Verfolgung und ständigen Todesangst, nehmen die Hälfte des Buches ein. Ein dritter Abschnitt ist der diplomatischen und literarkritischen Karriere im volksdemokratischen Polen gewidmet. Lediglich die letzten beiden Teile des Buches erzählen von der Übersiedlung in die Bundesrepublik 1958, der Tätigkeit bei der „Zeit” und der FAZ.

Liebevoll und ausführlich beschreibt Reich-Ranicki (geb. 1920) seine frühe Kindheit in Wloclawek und seine Prägung durch die Kultur der Weimarer Republik. Als er neun Jahre alt war, übersiedelten seine Eltern - die Mutter stammte aus einer berühmten alten Rabbinerfamilie - nach Berlin, wo er sehr schnell die deutsche Sprache lernte. Offen gesteht er, immer ein Außenseiter gewesen zu sein. Die frühe Leseleidenschaft des hochbegabten Kindes, seine Herkunft aus Polen und schließlich das Schicksal, in jenen Jahren ein Jude zu sein, mögen dazu beigetragen haben. Reich-Ranicki erzählt, welches Glück er als Kind durch die Bekanntschaft mit der deutschen Literatur erlebte, dem nur die Klassiker-Inszenierungen Gründgens am Berliner Schauspielhaus gleichkamen. Hier fand der ausgegrenzte jüdische Schüler eine humane Gegenwelt und für kurze Zeit Geborgenheit. Seine erste große Liebe galt Erich Kästner. Mit detektivischem Spürsinn besorgte er sich die Werke der von den Nazis verbotenen und in den Bibliotheken ausrangierten Schriftsteller. Mit Dankbarkeit erinnert er sich einzelner Lehrer an den Gymnasien in Berlin-Schöneberg und Wilmersdorf, die für Fairneß im Unterricht sorgten, die ihn literarisch auch außerhalb der Schule förderten und die Klasse mit Enthusiamus in die Welt der Literatur und Musik einführten. Reich-Ranicki berichtet von einem Lehrer, der vor jedem Passanten mit dem Judenstern den Hut zog. Er habe während seiner Schulzeit weder von den Lehrern noch von seiten der Klassenkameraden Diskriminierung erfahren. Lediglich der Ausschluß der jüdischen Schüler von Festen und Ausflügen der Klasse, ihre Isolierung außerhalb des Unterrichts von den „arischen” Klassenkameraden gehörten zum Alltag. Dennoch danke er der Schule ein hohes Niveau des Unterrichts und seinen Glauben an den Sieg der Humanität, den auch Hitlers zeitweise Machtfülle nicht beeinträchtigen konnte.

Nach seinem Abitur 1938 war Reich-Ranicki die Universität verschlossen. Noch im gleichen Jahr wurde er als Jude und polnischer Staatsbürger nach Warschau abgeschoben, wo bereits seine Eltern und sein Bruder lebten. Lakonisch, aber sehr genau beschreibt Reich-Ranicki, wie die deutsche Wehrmacht nach der Besetzung Warschaus ihre „Späße” mit orthodoxen Juden und besonders attraktiven Jüdinnen trieb, sie allmählich aber auch auf die assimilierten Juden Warschaus ausdehnte, deren Wohnungen plünderte, sie auf der Straße ohrfeigte, schikanierte, demütigte oder erschoß, je nach Laune der jungen deutschen Soldaten. Er beschreibt, wie das Ghetto eingerichtet, aber zunächst als Seuchengebiet, das man abriegeln müsse, ausgegeben wurde. Wie hier 450 000 Menschen lebten, die unter ständigem Hunger, Ungeziefer und Seuchen litten, wie täglich mit Zeitungspapier bedeckte Leichen auf den Straßen lagen. Er berichtet von den zwei getrennten Welten im Ghetto, die voneinander wenig hielten - den orthodoxen und den assimilierten Juden.

Reich-Ranicki, der mit einer jungen Leidensgefährtin liiert war, erlebte die Liebe in der ständigen Nachbarschaft des Todes. Musik wurde zur Überlebensdroge. Im Ghetto bildete sich ein Symphonieorchester, das hervorragende Konzerte gab, junge Leute trafen sich zu privaten Schallplattenabenden. Da Reich-Ranicki als Dolmetscher im Judenrat für die Korrespondez mit den deutschen Behörden zuständig war, erlebte er die Übermittlung des Beschlusses, die Bewohner des Ghettos binnen weniger Wochen zur Vernichtung abzutransportieren, aus nächster Nähe. Der Obmann des Judenrates, Adam Cerniakow, nahm sich daraufhin das Leben. Noch am gleichen Tag, dem 22. Juli 1942, heiratete Marcel Reich - wie er damals noch hieß - seine Freundin Tosia. Der tägliche Transport von mindestens 7 000 Juden nach dem nahe gelegenen Treblinka, wo sie sofort vergast wurden, dezimierte das Ghetto auf ein Zehntel seiner Bewohner. Einer Selektion am 5. September 1942 fielen Reich-Ranickis Eltern zum Opfer. Im Januar 1943 - als auch der Autor und seine Frau von der Selektion betroffen waren - glückte ihnen die Flucht in die Kellergewöbe des Ghettos und von dort in die Stadt. Von den Polen erpreßt und ausgeraubt, gleichzeitig jedoch in Familien vermitttelt, die ihnen Unterschlupf gewährten, landete das junge Paar im Juni 1943 bei dem arbeitslosen polnischen Setzer Bolek und dessen Frau am Stadtrand von Warschau, die sie bis zur Befreiung durch die Rote Armee am 7. September 1944 versteckten. „Adolf Hitler, Europas mächtigster Mann, hat beschlossen: Diese beiden Menschen hier sollen sterben. Und ich, ein kleiner Setzer aus Warschau, habe beschlossen. Sie sollen leben. Nun wollen wir mal sehen, wer siegen wird”, erklärte er ihnen. Reich-Ranicki erinnert sich, wie sie hungerten, so daß sie sich nach der täglichen Suppe im KZ sehnten, wie sie nachts für Bolek Zigaretten drehten, die dieser dann - zumeist für Schnaps - verkaufte, wie er an den Winterabenden Bolek und dessen Frau Genia klassische deutsche Literatur - oft in verballhornter, auf Spannung angelegter Version - erzählte und in ihnen dankbare Zuhörer fand.

Nach der Befreiung am 7. September 1944 durch die Rote Armee sei es für sie selbstverständlich gewesen - so Reich-Ranicki -, sich in Lublin der polnischen Armee zur Verfügung zu stellen. Die Propaganda-Einheit, für die sie sich gemeldet hatten, kam nicht zustande, so daß beide in der Postzensur landeten, die dem Ministerium für öffentliche Sicherheit unterstand. Das hatte zur Folge, daß Reich-Ranicki nach Kriegsende von der Auslandsabteilung des polnischen Nachrichtendienstes zunächst für drei Monate nach Berlin geschickt wurde, Anfang 1948 als Konsul und gleichzeitig im Auftrag des Geheimdienstes nach London, wo er die polnische Emigrantenszene beobachten sollte. Hier nahm Marcel Reich den polnischen Namen Ranicki an. Er war - wie viele polnische Juden - in die Kommunistische Partei eingetreten und glaubte, hier eine Heimat gefunden zu haben. In seinem Buch stellt Reich-Ranicki seine Geheimdiensttätigkeit glaubhaft als äußerst harmlos dar, sie habe sich auf Informationen beschränkt, die allgemein zugänglich waren. Im übrigen habe er mit einem Dienstwagen und Urlaubsreisen in westeuropäische Regionen ein privilegiertes Leben geführt. Was mir in seiner Darstellung etwas zu kurz kommt, ist sein damaliger Glaube an den Kommunismus wie auch die schon bald folgenden Konflikte mit der Partei. Beides wird konstatiert, ohne daß der Leser die geistige Entwicklung des Autors ganz nachvollziehen kann. Als nach Titos Bruch mit Moskau in Ungarn und der CSSR Prozesse gegen führende Kommunisten stattfanden, bat Reich-Ranicki um seine Ablösung. Ende 1949 wurde er aus dem Außen- und Sicherheitsministerium entlassen, in Polen vierzehn Tage inhaftiert und als „Kosmopolit” aus der Partei ausgeschlossen. Seine Frau wurde gedrängt, sich von ihm scheiden zu lassen. Anschließend habe man ihn auf seine Bitte im Verlagswesen (Verlag des Verteidigungsministeriums) untergebracht, wo er dafür sorgte, daß DDR-Literatur verlegt wurde. Da er gleichzeitig in der Wochenzeitung „Nowa Kultura” deutsche Literatur besprach, habe er bald als „zuverlässiger und gut lesbarer Fachmann” gegolten. Nachdem die Partei das Angebot eines Belletristik-Verlages, die Abteilung für deutsche Literatur zu übernehmen, vereitelt hatte, habe er als freier Kritiker, Gutachter, Übersetzer und Herausgeber gearbeitet. Im Zuge stalinistischer Repressalien erhielt er Anfang 1953 Publikationsverbot, das nach eineinhalb Jahren aufgehoben wurde. Während dieser Zeit lebte die Familie - in London war der Sohn Andrew geboren worden - vom Gehalt seiner Ehefrau. Später konnte Reich-Ranicki beim Rundfunk Fuß fassen. Zur Zeit des „Tauwetters” 1956/57 wurde er rehabilitiert. In Polen durften nunmehr auch Autoren der Bundesrepublik erscheinen, es wurde Reisefreiheit gewährt. Gleichzeitig verschlechterte sich das Klima für Juden, viele seiner Freunde und Bekannten wanderten nach Israel aus. Reich-Ranicki gelang es mit Hilfe von Heinrich Böll, einen Studienaufenthalt in der Bundesrepublik zu erhalten, von dem er nicht zurückkehrte.

Mit Dankbarkeit erinnert sich Reich-Ranicki all derer, die ihm halfen, in der Bundesrepublik Fuß zu fassen, allen voran Heinrich Böll und Siegfried Lenz. Auch Hans Werner Richter hatte ihm bereits eine ständige Rolle in der Gruppe 47 zugedacht, dort lernte er damals Walter Jens kennen, den engsten Freund und wichtigsten Gesprächspartner während vieler Jahrzehnte. Mit Rundfunkarbeiten und Rezensionen in der „Welt” wie in der „Zeit” hatte Reich-Ranicki erstaunlich schnell Erfolg. Bereits 1960 rechnete man ihn zu den „führenden Buchkritikern” der Bundesrepublik. Sein besonderes Verdienst war die regelmäßige Besprechung ostdeutscher Schriftsteller in der Kolumne „Hüben und drüben”. 1964 initiierte er die Fernsehsendung „Literarisches Kaffeehaus”, eine Plauderei über Literatur mit Hans Mayer und jeweils einem geladenen Schriftsteller - die Vorgängerin des „Literarischen Quartetts”.

Reich-Ranicki nennt sich einen „Kaffeehausliteraten” ohne Kaffeehaus. Er habe unter dem monologischen Alltag, der aus Lesen, Schreiben und wieder Lesen bestand, gelitten. Lebenslang habe er mit der Angst gelebt, an der Realität keinen wirklichen Anteil zu haben, immer nur vermittelt über die Literatur zu leben. Zumindest mit dem Wechsel an die „Frankfurter Allgemeine Zeitung” 1973, wo er den eigenständigen Bereich Literatur und literarisches Leben leitete, hatte ihn das „Leben” wieder. Es ist faszinierend, zu lesen, wie er hier eine Bühne für alle lebenden deutschsprachigen Schriftsteller schuf, wie viele hochrangige Mitarbeiter er gewann. Man glaubt es dem Autor, wenn er beteuert, seine Arbeitswut sei letzten Endes nichts als Spaß an dieser Tätigkeit gewesen. Hatte der Freund Joachim Fest ihn einst für die FAZ gewonnen, so schied Reich-Ranicki 1988 aus der Redaktion aus, als Fest ihn im Historiker-Streit enttäuschte und verletzte.

Er habe bei Kriegsende keine Freude empfinden können, sondern lediglich Trauer, Wut und Zorn, schreibt Reich-Ranicki, dessen gesamte Familie - bis auf eine Schwester, die nach England emigriert war - umgebracht wurde. „Wer zufällig verschont wurde, während man die Seinen gemordet hat, kann nicht in Frieden mit sich selbst leben”, resümiert er. Die Wunden der Vergangenheit sind tief, sie brechen nur zu leicht neu auf und heilen nie - wie auch an dieser Biographie deutlich wird.

PS: Ich frage mich, wie man in einer Autobiographie die Lebensgefährtin weithin aussparen kann, wo doch über Freunde ausführlich berichtet wird. Das letzte Kapitel, das Teofila (Tosia) Reich-Ranicki gewidmet ist, enttäuschte mich, ich hätte gern mehr über sie gewußt. Aber vielleicht diente die Zurückhaltung des Autors dem Schutz des Persönlichsten. Immerhin endet das Buch mit einer leisen, dankbaren Liebeserklärung.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 02/2000 © Edition Luisenstadt, 2000
www.berliner-lesezeichen.de

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