Rezension von Helmut Hirsch


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„Und ein Lächeln fror um seinen Mund”

 

Wulf Kirsten/Peter Salomon (Hrsg.):
Der aussätzige Mai
Der Expressionist A. Rudolf Leinert (1898-1969).

Edition Isele, Eggingen 1999, 40 S.

 

Seit 1992 gibt Peter Salomon, selbst Dichter und Essayist, die wunderbare Reihe „Replik” in der sympathischen Edition Isele heraus. Wie kleine Leuchtfeuer auf noch kleineren Inseln erscheinen einmal im Jahr (in der Regel) liebevoll und gründlich edierte? Hefte, die in ihrer bescheidenen, aber soliden Aufmachung ein bißchen an die Hefte der zwanziger Jahre erinnern. Heft 8 ist dem fast unbekannten Dichter A. Rudolf Leinert gewidmet. Peter Salomon hat es diesmal zusammen mit Wulf Kirsten herausgegeben. Das lag nahe, denn Kirsten hatte mit Leinert noch selbst in den sechziger Jahren korrespondiert. Ich finde es zudem sehr rühmenswert, daß Peter Salomon in seinem Einführungstext „Zu A. Rudolf Leinert” seine erste Begegnung mit dem Dichter, Herausgeber und Lektor Wulf Kirsten aus Weimar (Pfingsten 1986 bei Martin Walser am Bodensee) erwähnt, denn „hieraus entwickelte sich ein bleibender freundschaftlicher und kollegialer Kontakt”. Das ist hier hervorzuheben, weil gerade solche Verbindungen oft unterschlagen werden. Sie sind das Salz in der Suppe, denn gäbe es nicht diese Freunde und Nachfahren von Dichtern, zumeist sind es wiederum die Dichter, dann gäbe es auch nicht das Erinnern beispielsweise an Rudolf Leinert. Dessen Nachlaß, eröffnet Peter Salomon gleich im ersten Satz, „ist auf der Müllkippe gelandet”. Somit gibt es kaum Spuren, ein einziges Gedichtheft, einige verstreute Veröffentlichungen, zum Glück auch Gedichte aus der Kirsten-Leinert-Korrespondenz. Dazu Fotos aus verschiedenen Lebensaltern.

Oft verführt ja der Mangel an gedruckten Hinterlassenschaften dazu, der Phantasie zusätzliche Spiel-Räume zu verschaffen. Das ist hier aber ganz anders. Erstens „spinnen” die Herausgeber kein Quentchen hinzu, und zweitens hat der ein bißchen exzentrische Spätexpressionist Leinert selbst heftig hochgestapelt. Wer kaum ein nennenswertes Echo zu Lebzeiten hat, in sich aber einen starken Impuls zur Geltung verspürt, Gehör finden will, der kommt nicht umhin, dick aufzutragen. So maßt er sich einen Doktortitel an, gibt im Fragebogen zu Kürschners Schriftstellerlexikon statt einer gleich einundzwanzig Buchveröffentlichungen an. Der Traum von möglichst vielen Büchern muß groß gewesen sein bei Albert Rudolf Leinert, dessen Leben am 1. Dezember 1898 in Dresden begann und am 1. April 1969 in Berlin endete. Ein Dichter „fast ohne Biographie und literarische Geschichte - eine dunkle Existenz” (Peter Salomon). Es ist auch nicht wirklich nachweisbar, ob Leinert während der Nazizeit tatsächlich in Zuchthäusern und im Konzentrationslager Buchenwald gewesen ist. Die Fotos aus jener Zeit zeigen Spuren von Strapazen, aber ein großer Kopf auf einem kleinen Körper, das war Leinerts Erscheinung, ist in schweren Zeiten leicht zu verdrehen.

Die ersten Gedichte schreibt Leinert 1914. Peter Salomon rechnet ihn „eindeutig zur zweiten Generation des Expressionismus”. Und der hat ja in Dresden Furore gemacht. Es gab reichlich Gelegenheiten für Veröffentlichungen, Lesungen, aber die Resonanz Leinerts war zwiespältig. Peter Salomon hält sich mit Bewertungen der Gedichte ganz zurück, doch er zitiert die kritischen Stimmen so ausführlich, daß er ihnen wohl damit auch zugleich zuzustimmen scheint. Da ist von regem Wortschwall und „Gefühlsschwelgereien” die Rede. Dem Kritiker, der ja den Vortrag Leinerts auch erlebt hat, fiel auf, daß sich der Dichter „absichtsvoll” gab. Zudem: „Komödiantisches Pathos, näselnde Dämonie, rollendes R., eigenartiger Dialekt machen seinen Vortrag leider schwer verständlich.” Gewiß, der Kritiker mag übertrieben haben, aber es zeigen sich hier womöglich tatsächlich Grenzen der Dichter-Persönlichkeit. Umstände, die es verhinderten, daß Leinert, der immerhin viele Freunde und Kollegen um sich hatte und intensiv korrespondierte, bekannt wurde. Also eine schwierige Person, und ein Autor, der weder in guten noch in schlechten Zeiten größere Schreib-Impulse entwickelte.

Und sein kleines Werk? Der „expressionistische Komet” (Peter Salomon) wird in diesem Heft mit 22 Gedichten vorgestellt. Insgesamt haben die Nachlaßforscher und Editoren Wulf Kirsten und Peter Salomon 115 Gedichte ermitteln können. Was abgedruckt wurde, kann bestehen. Leinert hat aus den vertrauten Zeichen expressionistischer Dichtung (All, Nacht, Schrei, Blut, Fanfare, Aufruhr) etwas Eigenes geformt. Im Gedicht „Das Leid der Stunden” herrscht große verbale Unruhe, es beginnt hektisch-vibrierend: „Entmenschte Seele schaukelt bunte Gleise, / Irrlichtertanz, der über Schatten kreist. / Auf toten Straßen frieren welke Greise, / Ein Schrei, der wild das Herz zerreißt? ...”

Durchweg herrscht „Aufruhr der Seele”, im Titel und im Vers. Und das entsprechende Gedicht hebt an mit der zerknirschenden Selbstanrede an den Dichter ohne Werk: „Kein Werk mehr, das sich meinem Geiste fügte! - O ihr verbuhlten Hüften, / Ängste der tausendsten Nacht ...” Im zweiten Vers dramatisch gesteigerter Expressionismus: „Betäubung und Schreie...: Kokain! O heilendes Morphium! Für Stunden vergessen -: was? wie? warum? ... Der Fieberbrand! / Ekel vor allem! Ihr toten Lüste. Die Selbstmordmanie! das reizarme Gift der entzauberten Zigarette!”

Alles fliegt, alles strömt, Rausch und Schwall, Angst und Zerstörung, Irrenhaus und „Magnesiumblitzlicht”. Es lichtert heftig in Leinerts Gedichten. Es ist, als würde die grindige, abgründige Welt umgepflügt, überall pocht der poetische Reflex: Krieg, Unsicherheit, Leere. „Automobile fauchen ihre Warnung”, „Geistesarme Pharisäer murmeln Schacherpolitik; finden das alltägliche Leben schön und gar nicht ohne Leere”. Trotzige Anti-Gebärden im Gedicht „Schwerer Weg”, wilde Elektrisierung des Lebens und seiner ausweglosen Situationen in „Der aussätzige Mai”. Bilder vom Welt-Ende, „Wahnsinn”, der am Anfang des Jahrhunderts noch Wahnsinn war, bevor an dessen Ende gleich alles zu Wahnsinn gemacht wird. Das Wort hat seine Geltung, wo „Ende” steht, da ist auch Ende im Vers: „Das Grauen wächst. / Es ist ein Schatten schon / Davor: das Scheidende. Es steigt und hebt / Den Horizont im schwarzen Untergang.”

Drei Gedichte sind an Dichter gerichtet, der Name ist zugleich Titel, es sind Hebbel, Kleist und Rimbaud. Waren es abdriftende End-Welten in jenen, so dominieren in diesen Porträt-Gedichten Wunsch-Welten, radikal anders ersehnte Werk-Hoffnungen. „Das Schmerzliche, das den Gedanken blieb: / Daß man auch Samen war wie Klee und Wicke. / Ich wäre lieber strenger Stein gewesen.” („Hebbel”) Und im „Kleist”-Gedicht liest man solch erstaunliche „Bilder”: „Der Wannsee leckt / Sich blau am Ufer. Nur ein Weib / An meiner Seite, dem der Krebs / Die Eingeweide pflügt. Mit Versen würgt / Man nicht die Angst vor dem, was kommt, hinweg ...”

„Eulenspiegel kehrt heim”, für mich das beste Gedicht dieses Heftes, ist ein melancholisches Gegen-Bild zur bekannten Figur, die Schatten-Seite des heiteren und durchtriebenen Spiels mit dem Leben. Matt am „Ziel” und am Ende von allem: „... Sein Hund / verfolgte treulich seinen magren Schatten ... und ein Lächeln fror um seinen Mund.”


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 02/2000 © Edition Luisenstadt, 2000
www.berliner-lesezeichen.de

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