Rezension von Dorothea Körner


cover  

Das Naziregime - eine finstere Naturgewalt

 

Michael Degen: Nicht alle waren Mörder
Eine Kindheit in Berlin.

Econ Verlag, München 1999, 332 S.

 

Der bekannte Schauspieler Michael Degen (geb. 1932) hat sich mit diesem Buch geoutet. Er ist jüdischer Abstammung und sollte - nachdem sein Vater im KZ umgebracht worden war und sein älterer Bruder aus Deutschland hatte fliehen können - zusammen mit seiner Mutter deportiert werden. Dank vieler Glücksumstände konnten beide in Berlin untertauchen und die Naziherrschaft überleben.

Beim Nachdenken über dieses Buch fiel mir Döblins Berlin Alexanderplatz ein. Natürlich möchte ich Michael Degens Kindheitserinnerungen in ihrer ästhetischen Qualität nicht mit diesem Meilenstein der deutschen Literatur vergleichen, aber die Berliner Topographie - Elberfelder Straße, Eisenacher Straße, Bayerischer Platz, Olivaer Platz, die Bahnhöfe Bellevue und Jannowitzbrücke, der Gendarmenmarkt, die Gegend um den S-Bahnhof Warschauer Brücke und die Laubenpieper- und Eigenheim-Landschaften von Mahlsdorf und Kaulsdorf-Süd sind so genau beschrieben, daß man die Stationen dieser zweijährigen Flucht anhand des Stadtplans nachvollziehen, ja einzelne Fußmärsche nachwandern kann. Besonders aber ist es das soziale Milieu, das der zehn- bis zwölfjährige Junge kennenlernte, was mich an Döblin denken ließ. Geschildert wird das Berlin der nächtlichen Bombenangriffe in den Jahren 1943 bis 1945, eine Großstadt, deren Bewohner nachts in Luftschutzbunker und Splittergräben flüchteten - wo Juden keinen Zutritt hatten -, eine Bevölkerung, die durchaus Hilfsbereitschaft und Solidarität mit den Ausgebombten praktizierte - solange diese keine Juden waren. Es ist das Berlin der „kleinen Leute”, in dem sich das Ende der Naziherrschaft bereits abzuzeichnen begann.

Beobachtet hat dies ein zehn- bis zwölfjähriger deutsch-jüdischer Junge, der zusammen mit seiner Mutter im Untergrund lebte, ohne Ausweis, unter falschem Namen, ständig auf der Flucht. Das Buch verrät den hellsichtigen und direkten Blick eines Kindes und Jugendlichen, für den der Untergrund auch Abenteuer, sarkastisches Theaterspiel und skurrile Farce war, der unvoreingenommen die Menschen seiner Umgebung beobachtete, seien es eine ehemaligen Hofdame der Zarenfamilie, eine „Puffmutter” und deren Töchter aus dem Subproletariat, „Goldfasanen” und SS-Offiziere, die Familie eines KPD-Widerständlers oder ein jüdischer Sowjetoffizier. Das Kind Michael Degen alias Max Gemberg lernte früh die Abgründe bürgerlicher Existenz kennen, es mußte weit über sein Alter kaltblütig, umsichtig und verantwortlich reagieren. Dennoch setzte es - mit Hilfe seiner Mutter - dem staatlichen Todesurteil ein trotziges und verrücktes Lebensgefühl der Überlegenheit und Unversehrbarkeit entgegen. Daß der Autor trotz der dargestellten Schrecken - zweimal wurden die Häuser, in denen sich Mutter und Sohn aufhielten, von Bomben zerstört, Hunger, Kälte und zeitweilige Obdachlosigkeit waren zu ertragen, dazu die ständige Angst vor Polizeikontrollen auf der Straße, vor Verrat der Nachbarn oder Verhaftung der Freunde -, daß Degen also trotz dieser Schrecken keine Larmoyanz aufkommen läßt, auch wenn er von Stunden der Verzweiflung, der Weinkrämpfe und Wutausbrüche berichtet, ist wohl der kindlichen Vitalität, vor allem aber einer großartigen Mutter und der Dankbarkeit gegenüber den Personen geschuldet, die sie mit Selbstverständlichkeit aufnahmen, verköstigten, als Freunde behandelten und ihr Leben dabei aufs Spiel setzten. Das Buch scheint mir eine große Liebeserklärung an diese „normalen” Berliner zu sein, die das Einfachste und Nächstliegende von der Welt taten - Menschen in Not zu helfen. Daß Michael Degen und seine Mutter immer wieder Personen fanden, die ihnen ermöglichten, in Berlin zu überleben, stimmt noch heute hoffnungsvoll.

Nach einer Lesung sagte der Autor, die Erinnerungsarbeit hätte ihn nicht befreit, im Gegenteil, was vorher durch Jugend und die Ereignisse der Nachkriegszeit verdrängt worden war, sei schmerzhaft lebendig geworden. Es ist dem Künstler Michael Degen dennoch gelungen, aus dem Personenkreis dieser Kindheit eindringliche literarische Gestalten zu schaffen. Da ist der Vater, von dem der kleine Michael glaubte, er würde im Konzentrationslager „Konzentration” lernen - ein begnadeter Geschichtenerzähler, der die Menschen mit seiner Phantasie verzauberte. Oder die offensichtlich sehr schöne, willensstarke und geistesgegenwärtige Mutter, die zu zirkusreifen clownesken Darbietungen fähig war, wenn es galt, eine Paßkontrolle abzulenken bzw. ad absurdum zu führen, die in Gefahr ihre phantastischen Lügen-Auftritte hatte und ihrem Sohn das Gefühl des Triumphes und der Unverletzbarkeit gab, etwa wenn sie - obdachlos nach einem nächtlichen Angriff - über den zerstörten Kudamm gingen. „Je größer das Chaos, desto ungefährdeter schienen wir zu sein”, erinnert sich der Sohn. Da gab es Lona Beege-Faude-Furkert (nach ihren drei Ehemännern, von denen der dritte ein Krimineller war), die in das Textilgeschäft seines Vaters zunächst als Kompagnon eingestiegen war und es dann allein weitergeführt hatte, ihren Erlös aber weiterhin mit Frau Degen teilte. Da gab es die aristokratische Russin Ludmilla Dimitrieff, die vorzüglich Klavier spielte, in ihrem Salon Nazis empfing, vermutlich Zuträgerin der Nazis war und gleichzeitig Juden versteckte. Von den Schwestern Erna und Käthe Niehoff wird erzählt; erstere arbeitete bei der nationalsozialistischen Volksfürsorge (NSV), letztere bekochte ein Lager für internierte Tschechen. Degen erinnert sich, wie umwerfend Erna Niehoff reagierte, als er ihr gestand, er sei keine „jüdische Waise”, für die er sich auf einem Kindertransport ausgegeben hatte. „Das war sie also. So sah sie wirklich aus. Ich hatte noch nie Augen so lachen sehen.” Erna Niehoff wurde später im KZ Ravensbrück umgebracht. Ihre Schwester Käthe, die die Degens „mit einer fast sorglosen Selbstverständlichkeit” in ihrem Häuschen aufnahm, während sie das „Naziregime als eine Art finstere Naturgewalt über sich ergehen ließ”, geriet ebenfalls in Gefahr, da sie bei den Lebensmittelschiebungen der Tschechen zu oft ein Auge zugedrückt hatte. Degen erzählt von dem Kommunisten Hotze, der ein Glasauge trug, gern politisch dozierte, heimlich Flugblätter verteilte, die Degens in seinem Haus aufnahm und sie rechtzeitig warnte, als die Gestapo vor der Tür stand. Und von dessen Schwägerin Martchen Schewe, die auch nach der Verhaftung des Ehepaares Hotze Frau Degen und deren Sohn erneut bei sich aufnahm, mit ihnen die dramatische - und beinahe tödliche - Befreiung durch die Russen erlebte - und deren Sterben den jungen Michael tief erschütterte. Besonders eindrücklich werden der Mahlsdorfer Freund Rolf und dessen alleinerziehender Vater geschildert, ein Lokführer, der an seiner beruflichen Pflicht, die Transporte nach Auschwitz zu begleiten, psychisch zu zerbrechen drohte, und auflebte, als die Degens in seinem Haus Zuflucht suchten. Die Freundschaftsgeschichte mit Rolf gibt auch Einblick in die Abenteuerwelt der Berliner Jungen gegen Ende des Krieges, als das Sammeln und Tauschen von Granatsplittern zur liebsten Freizeitbeschäftigung wurde. Rolfs tragisches Ende hat Michael Degen - wie er selbst sagt - nie verwunden.

Sehr genau gibt der Autor charakteristische Gespräche jener Zeit zwischen einander Unbekannten wieder, das Lavieren zwischen Argwohn, Verstellung, kaltblütiger Schauspielerei, sorgfältigem Abtasten des Gesprächspartners, halboffenen Anspielungen und - eventuell - dem Mut zur Wahrheit. Dabei gelingt Degen die Schilderung großartiger Szenen, etwa wie er Rolfs Vater ungewollt beim BBC-Hören überraschte oder wie seine Mutter auf der Geburtstagsfeier Käthe Niehoffs mit einem hohen SS-Offizier emphatisch auf den Endsieg prostete. Michael Degen gibt seine damaligen Gedanken in der Sprache des Kindes und Jugendlichen wieder, auch in der authentischen Vereinfachung und Grobheit. Der Erwachsene von heute spürt hinter diesen Sätzen die komplizierte und angespannte seelische Situation des Kindes und oft auch seiner Mutter. So reizte es den zehnjährigen Jungen in der NSV-Sammelstelle, wo sich die Ausgebombten zu melden hatten, der ihn betreuenden NS-Frau ins Gesicht zu schmettern: „Ich bin eine Judensau, eine kleine Judensau.” Kurz danach flüsterte er seiner Mutter ins Ohr: „Warum sind wir bloß als Scheißjuden geboren worden?” Verzweiflung schlug häufig in Albernheit um, Mutter und Sohn bekamen Lachanfälle, die ihrer Umgebung unerklärlich waren. Den „ausdruckslosen Trauerblick”, mit dem ihn Wohlgesinnte manchmal bedachten, ertrug der Junge aus Selbstachtung nicht. Aber die jahrelange Verweigerung von Normalität und Gleichberechtigung hinterließ dennoch ihre Spuren. „Bis zum heutigen Tag werde ich das Gefühl von Minderwertigkeit nicht los, das ich als Kind eingeimpft bekam”, schreibt der hoch angesehene Schauspieler. Am schrecklichsten aber ist wohl eine Drohung der Mutter, als ihr Sohn sich für mehrere Tage ohne eine Nachricht entfernt hatte: „Sollte dir noch einmal so was einfallen, wirst du mich nicht mehr finden. Dann melde ich mich freiwillig zum Vergasen.” - Diese und ähnliche Dialoge gehörten damals zum Alltag eines Kindes.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 02/2000 © Edition Luisenstadt, 2000
www.berliner-lesezeichen.de

zurück zur vorherigen Seite