Rezension von Marianne Vogel


 

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Wörter - leuchtend wie Wassertropfen

 

Elias Canetti:
Aufzeichnungen 1973-1984.

Carl Hanser, München 1999, 120 S.

 

Während der langen Vorarbeiten zu seinem Hauptwerk Masse und Macht, von dem er wußte, daß es ihn vielleicht noch Jahrzehnte in Anspruch nehmen würde, entstand - so erzählt Canetti im Vorwort zu seinen Aufzeichnungen 1942-1985 - ein „Druck, der mit der Zeit gefährliche Ausmaße annahm. Es war unerläßlich, ein Ventil dagegen zu schaffen, und ich fand es, Anfang 1942, in den Aufzeichnungen. Ihre Freiheit und Spontanität, die Überzeugung, daß sie nur für sich bestanden und keinem Zweck dienten, die Verantwortungslosigkeit, mit der ich sie wieder las und nichts an ihnen änderte, retteten mich vor der fatalen Erstarrung.” 1965 erschien eine erste Auswahl der frühen Aufzeichnungen (1942-1948), 1973 ein umfangreicherer Band Die Provinz des Menschen. Aufzeichnungen 1942-1972, 1987 dessen Fortsetzung Das Geheimherz der Uhr. Aufzeichnungen 1973-1985, und schließlich Nachträge aus Hampstead. Aus den Aufzeichnungen 1954-1971. Noch vor seinem Tod 1994 hatte Canetti ein weiteres Manuskript der Jahre 1973-1984 zusammengestellt, das nun bei Hanser herausgekommen ist, wo das Gesamtwerk Canettis betreut wird.

Diese „Nachlese” reflektiert noch einmal das Jahrzehnt 1973-1984, in dem Canettis autobiographische Werke entstanden: Die gerettete Zunge über Kindheit und Jugend (1905-1921), Die Fackel im Ohr über die Nachkriegsjahre in Frankfurt/Main und die prägende Wiener Studienzeit (1921-1931) und Das Augenspiel - die Jahre der Bekanntschaft mit führenden Literaten der Avantgarde und dem eigenen literarischen Hervortreten bis zur Emigration (1931-1937). In den sie begleitenden Notizen reflektiert Canetti Tod und Gedächtnis, die Transformierung lebendiger, ihn beschäftigender Gestalten in die Vergangenheit und sein Verhältnis zu den Toten, seine Suche nach der eigenen Fragestellung und der Bedeutung der Wörter. Immer wieder klingt die Lebensnotwendigkeit von Büchern, seine Beziehung zu den Denkern der Vergangenheit an. Gleichzeitig spürt man in den Aufzeichnungen den Geist der späten siebziger und frühen achtziger Jahre, das Gefühl zunehmender Ratlosigkeit und globaler Bedrohung. Nachdem 1963 Canettis erste Frau Veza Taubner-Calderon gestorben war, hatte er 1971 Hera Buschor geheiratet. Mit der 1972 geborenen Tochter Johanna erlebte der Schriftsteller erstmals seine Verantwortung als Vater, die ihn ebenfalls zu Reflexionen veranlaßte.

„Elias Canettis Aufzeichnungen gehören zu den großen, unerschöpflichen Büchern unseres Jahrhunderts”, liest man im Klappentext. Was Canetti „Aufzeichnungen” nennt, sind in Wahrheit Aphorismen, Gedankensplitter, knapp notierte Erlebnisse oder Lesefrüchte, funkelnde Sprachschöpfungen - kurz, Beispiele eines originären, geschmeidigen, unerwarteten und durchdringenden Denkens, das neue Gesichtspunkte und Erkenntnisse mit einer einzigen Formulierung umreißt. Die deutsche Sprache wird in Canettis Hand klug und neu, durchsichtig und wandlungsfähig, er spielt sie wie ein Instrument, reinigt sie von Schwulst, leeren Sprachhülsen, alltäglichem Verschleiß und geheimer Verlogenheit, wobei er sich von jedem Experimentieren mit der Sprache distanziert. Ohne den einstigen Lehrmeister Karl Kraus, von dessen übermächtigem Einfluß Canetti sich mühsam befreit hatte, sind seine Aufzeichnungen wohl kaum zu denken.

Im Folgenden sei eine kleine Auswahl vorgestellt:

1973:
Die sonderbare Vorstellung Ha.'s, daß man alles bekämpfen könne, nur nicht den Tod. Als ob es etwas anderes gäbe, das man zu bekämpfen hätte.

1974:
Ein Leben statt nach den Jahren nach seinen Inhalten durchsuchen wie: alle Schrecken, alle Überraschungen, alle Verwandlungen, alle Aus- und Eintritte, alle Gegenbilder, alle Hoffnungen, alle Feindschaften, alle Unglücksfälle, alle Genugtuungen, alle Strafen.

1975:
Gegen alles, was man ist, muß man sich wehren, aber nur so, daß man es nicht zerbricht.

1976:
Eine Erfahrung, gegen die man sich nicht gewehrt hat, ist keine Erfahrung. Eine Einsicht, die man nicht wahrhaben will, ist keine Einsicht. Ein Schmerz, den man vergißt, ist kein Schmerz.

1978:
Musil wird noch dasein, wenn über Thomas Mann gegähnt wird.

1980:
Wie wenig er denkt! Wie viel er tut! Immer, wenn sich bei ihm etwas zum Denken meldet, tut er rasch etwas und verhindert's.

1982:
Es ist mir darum zu tun, etwas vom Unglück, das Freud bewirkt hat, ungeschehen zu machen.

1983:
... Es ist über allen Äußerungen Sartres dieselbe Farblosigkeit, nichts leuchtet, nichts atmet, nichts lebt. Aber es gibt große und ausführliche Diskussionen ....
Die entschlafenen Utopien. Welche Zeit, als man sie noch hegen und pflegen durfte! Wird sie wiederkommen, eine Zeit, in der man Utopien nicht fürchtet?

Er gewöhnte sich an Gott und wurde Jude.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 02/2000 © Edition Luisenstadt, 2000
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