Rezension von Sebastian Kiefer


 

Erhebung der Lyrik zur Religion
Joseph Brodsky: Der sterbliche Dichter
Über Literatur, Liebschaften und Langeweile.
Aus dem Amerikanischen von Sylvia List.
Carl Hanser, München 1999, 312 S.  

Am Anfang war ein Radio. Philips hatte es gebaut. Sechs Röhren gaben dem Inneren Leben. Ein „katzenartiges, ungeheuer faszinierendes grünes Auge” vorne drauf signalisierte die Qualität des Empfanges, eine gelbe Skala darüber die Weltgegend, aus der die winzigen Wellen herüberkamen und sich im Petersburger Domizil der Brodskys in einem spinnenförmig unter die Zimmerdecke geschnürten Haushaltsdraht, der die Antenne mimte, verfingen. Englisch, deutsch, polnisch, ungarisch, französisch, schwedisch codiert, traten Stimmen aus dem Äther in den grauen sozialistischen Alltag. Ella Fitzgerald, Louis Armstrong, Clifford Brown und Charlie Parker ließen den traurig bröckelnden Putz des realsozialistischen Einheitskabuffs verschwimmen und entrückten den zwölfjährigen Joseph in das „Pantheon des Jazz”, den Traum vom Westen, in dem Milch und Honig fließen. Und überhaupt: „Wenn irgend jemand vom Krieg profitiert hat, dann wir: seine Kinder. Abgesehen davon, daß wir ihn überlebt hatten, bekamen wir reichlich Stoff, den wir romantisch verklären oder in unserer Phantasie spielen lassen konnten. Zusätzlich zur üblichen Kindheitskost von Dumas oder Jules Verne hatten wir militärische Ausrüstungsgegenstände, die bei Buben immer gut ankommen.” Keine Kriegsutensilien der Roten Armee, bewahre, sondern mit Vorliebe deutsches Gerät, das die massakrierten und am Ende doch siegreichen Väter in den Reihen der Stalintruppen von irgendwoher mit nach Hause schleppten: Schmeisser-Gewehre, Tiger-Panzer, Kruppkanonen. Bald konnte man sie - und auch die Stukas, Junckers, Messerschmidts und Fockers - in den überall emporsprossenden Kriegsmuseen bestaunen - auch das machte alles nur romantischer, aufregender. „Fritze” tauften die halbwüchsigen sowjetischen Münder die Deutschen, „Faschisten” oder „Hitlerdeutsche” blieb ein Fremdwort.

Ein Fernglas rettet Vater Brodsky aus dem Inferno ins Leningrader Heim („Zeiss!”). Gürtelschnallen kommen hinzu, ertauscht auf der schwarzen Börse der Schulbuben, ein deutsches Bajonett, ein Vergrößerungsglas. Und der kleine Joseph geht Stück um Stück dem sozialistischen Alltag verloren, noch ehe er ganz drin war. Den Überresten der Hitlerschlächter sei Dank. Und den laufenden Hollywood-Bildermärchen. Errol Flynn, Olivia de Havilland, Tyrone Power, Johnny Weissmuller diktieren aus verbotenen Zonen her der sowjetischen Nachkriegsjugend den Habitus; der staatlich verordnete realsozialistische Werktätige dagegen ist nicht viel mehr als ein alberner Strohmann. Die Mütter werden weichgeredet, bis sie die auspludernden Nachkriegsbeinkleider in Röhrenform bringen („Levi's”), über Nacht scheinen allen Leningrader Jungen die Haare gesprossen zu sein: „Allein die Tarzan-Reihe, so wage ich zu behaupten, hat mehr zur Entstalinisierung beigetragen als alle Reden Chruschtschows auf dem XX. Parteitag und danach.”

„Kriegsbeute”, Segen der Kriegskinder, Fluch der Ideologen. „Kriegsbeute” nennt Brodsky den Essay, der den neuen Sammelband einleitet. Er setzt das kleine, vor einigen Jahren auch auf Deutsch erschienene, grandios präzise Büchlein Erinnerungen an St. Petersburg ebenbürtig fort. Fortsetzungen sind auch die meisten der anderen Essays, die nun auf Deutsch vorliegen, die letzten, die der von seinem kranken Herzen früh hingeraffte Nobelpreisträger vollenden konnte. Fortschreibungen seiner Erhebung der Lyrik zur Religion: Maß aller geistigen Dinge, Vereinigung des rationellen und des intuitiven Wissens, ja Telos der Schöpfung überhaupt, Heilmittel gegen jede Art von Gewalt, Unwissen, Roheit, Bastion der Individualität im Zeitalter der Vermassung. (Weswegen im letzten Essay des Vorgängerbandes auch ganz ernsthaft vorgeschlagen wurde, zwecks Reform der westlichen Kultur solle man doch kostenlos Gedichtbände unters Volk verteilen.) Liebesgedichte, könnte man meinen, das ist doch einmal etwas anderes, hier geht es um Gefühle und die Beziehungen zu Wesen aus Fleisch und Blut. Weit gefehlt, sagt Brodsky, im Liebesgedicht geht es, wie in allen erotischen Angelegenheiten, letztlich um die Sehnsucht nach Reinigung: Es entsteht zwar aus Liebe, aber aus Liebe zur Sprache. Das irdische Geschöpf mag vergehen, die Sprache, die künstlerisch bedeutende, bleibt. Die Geliebte ist eine Chimäre, ein zufälliger, austauschbarer Katalysator für die poetische Schöpfung; die Muse aber, Mutter und Herrin der Sprache, ist ewig.

Es gibt nun auch private Töne von Brodsky, Notizen von einer der unzähligen Konferenzen zum Beispiel, auf denen Schriftsteller sich zu versammeln pflegen, die sich in ihren Eitelkeiten, Vergnügungssüchten und ihrer Vorliebe für Fraktionsbildung und Schaukämpfe gar nicht sehr von den anderen Millionen nichtliterarischen, überflüssigen Konferenzreisenden dieser Erde unterscheiden.

Es gibt eine historische Recherche in das dunkle Terrain des West-Ost-Konfliktes. Durch Unscheinbares ausgelöst, die Abbildung einer Briefmarke im London Review of Books: Kim Philby zu Ehren gedruckt in der Sowjetunion. Die hatte allen Anlaß, dem einstigen Cambridge-Studenten Philby einen Dank abzustatten, war der doch einer der erfolgreichsten „Maulwürfe” seiner Zunft - er wollte dem Staate Stalins wohltun, diente sich dem englischen Geheimdienst an, um von dort, von der Quelle her, Geheimnisse den Sowjets rüberzureichen. Philbys Westhaß war so fanatisch, spekuliert der sich hier einmal als historischer Detektiv versuchende Dichter Brodsky, daß er wahrscheinlich sogar das sowjetische Engagement in den arabischen Ölemiraten mit einfädeln half - darauf erpicht, den Westen zu schädigen, wo es nur ging. Dennoch kein bloßer Exkurs, sondern auch eine Exkursion in die eigene Vergangenheit: Philbys Rolle wird nachrecherchiert im Wechselspiel mit Erfahrungen Brodskys selbst in der Diktatur. Zwischengeschoben sind Erzählungen vom überraschend hohen didaktischen Wert von Briefmarken in der Diktatur zum Beispiel und auch in Kriminalromanen.

Ein „Lob der Langeweile” wird gesungen in einem der Essays, lehrt sie doch, wie weniges sonst, die Bedeutungslosigkeit des Menschen im Vergleich zur grenzenlosen Macht der Zeit. Eine Abbitte an Klio, die Muse der Historie, wird geleistet - sie fällt dem Dichter leicht, denn es gilt, Abschied zu nehmen von den Verstümmelungen der geschichtlichen Vielfalt zu linearen oder evolutionär sinnvollen Prozessen (keine ganz neue Einsicht): Geschichte muß man erzählen, nicht erklären. Vaclav Havel wird energisch widersprochen, wenn er den „Alptraum des Kommunismus” mittlerweile von einem „Alptraum des Postkommunismus” gefolgt sieht - eine unerträgliche Verharmlosung für Brodsky, den von der Diktatur letal gezeichneten Dichter.

Die kulturelle Korruption hat längst auch das Reisen, die Suche nach Unschuld und Fremde ergriffen: „Streng genommen erinnern wir uns nicht an einen Ort, sondern an die Postkarte von ihm”, jede Reise wird „letztlich eine Einkaufsexpedition”. Einen Ausweg für die aus Schwäche in sich gefangenen Bürger unserer Zeit gibt es für den unerbittlichen Kulturpessimisten Brodsky nicht - ausgenommen das Gedicht, die Hingabe an die artististisch verdichtete und gereinigte Sprache, wie sich versteht. Ganz nur der Sprache ergeben, das ist dabei der Exilant.

Alle anderen sind mehr oder weniger gefangen im alltäglichen Leben. Der Exilant - keine Erfindung der Neuzeit, sondern ein Nachfahre Adams. Neu ist allenfalls, daß er heute in einer „autonomen, raumschiffähnlichen Geistesverfassung” vegetieren muß. „Exilschriftsteller zu sein ist so, als wäre man ein Hund oder ein Mensch, der in einer Kapsel in den Weltraum geschossen wurde (eher freilich ein Hund als ein Mensch, weil man nie zurückgeholt wird). Und diese Kapsel ist die eigene Sprache.” Der Autor im Exil, der Verlorenste von allen, einer, der der Welt abhanden gekommen ist, nichts mehr von ihr zu erwarten hat als bestenfalls ein wenig flüchtigen Nachruhm - genau er ist die einzig mögliche Erlöserfigur im Kosmos des Jahrhundertlyrikers Brodsky. Für den Mensch nämlich ist keine Hoffnung mehr hienieden, Überleben wäre schon viel. Nur das Beste, was er geschaffen, hat eine Chance - die Sprache. Melancholischer, radikaler, konsequenter ist wohl noch nie die Kunst vor der Welt und Welt in die Kunst gerettet worden.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 02/2000 © Edition Luisenstadt, 2000
www.berliner-lesezeichen.de

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