Analysen · Berichte · Gespräche · Essays


 
Realismus und Fiktion
Im Gespräch mit Sabine Kebir

Wie kam es, daß Sie sowohl belletristische als auch populärwissenschaftliche Bücher schreiben, letztere sowohl im literatur- und kulturwissenschaftlichen als auch im politologischen Bereich?

Das war biographisch bedingt. Als Kind wollte ich entweder Archäologin oder Schriftstellerin werden. Ich wollte die Natur des Menschen erforschen, was er leisten kann und was nicht. Der Sozialismus, wie er sich damals darstellte, schien mir den Menschen zu überfordern. Aber warum? Wo genau? Die Ideale selbst waren doch schön. Durch die massenhafte Republikflucht vor der Mauer und die vielfachen Fluchtwünsche nach der Mauer wußte man doch, daß sich die meisten mehr für die Ausnutzung der höchstmöglichen individuellen Lebenschancen interessierten als am Aufbau einer solidarischen Gesellschaftsordnung mitzuwirken. Ich selber fühlte mich von dieser Frage zerrissen. Durch vergleichendes Studium der verschiedenen Geschichtsepochen, aber auch der verschiedenen Kulturen hoffte ich, das besser zu verstehen. Ich wollte quasi im Durchschnittsverfahren ermitteln, zu welchen zivilisatorischen Solidaritätsleistungen der Mensch überhaupt in der Lage ist und zu welchen eben nicht. Natürlich wäre das eine - im Verhältnis zu den vorgegebenen Zielen der DDR-Führung - sehr kritische Forschung gewesen.

Mit etwa neun Jahren schrieb ich einen Indianerroman. Hier ging es schon mehr um die Frage der menschlichen Natur, als darum, das Ziel der Verbrüderung zu verherrlichen. An den Indianern faszinierte mich, was uns fehlte oder genommen worden war: die Würde, die sie auch in der Niederlage behielten. Später kamen Tagebücher hinzu, Novellen, weitere Romanversuche, etwa zehn Jahre lang Gedichte. Ich bin damit nicht an die Öffentlichkeit getreten. Mein Vater war Literaturwissenschaftler, übte teilweise auch Parteifunktionen aus, allerdings nicht als Zensor, sondern um den Spielraum einer Forschungseinrichtung gegenüber der Zensur möglichst groß zu halten. Auch weil ich eine Zeitlang mit einem Rockmusiker befreundet war, wußte ich über das Funktionieren der Zensur genau Bescheid und sah eigentlich keine Möglichkeit, irgend etwas mit der mir notwendig scheinenden Radikalität zu veröffentlichen. Deshalb ließ ich mich von meinem Vater in eine wissenschaftliche Nische leiten, in der ich mit weniger Aufsehen als im Literaturbetrieb meinen Interessen nachgehen konnte.

Ich studierte Italienisch und konnte dann am Institut für Literaturgeschichte der Akademie der Wissenschaften über den von der SED noch für einen Abweichler gehaltenen Antonio Gramsci forschen. So kam ich in die privilegierte Situation, mich als vielleicht einzige DDR-Bürgerin damals legal mit dem Eurokommunismus auseinandersetzen zu können, der ja auch ein realistischeres Bild vom Menschen hatte als wir. Gleichzeitig schrieb ich einen Roman über Abenteuer junger Leute im Prenzlauer Berg, wo ich damals wohnte: „Achmet oder die Liebe zur Revolution”. Hier wird der Prenzlauer Berg um 1970 ganz ungeschminkt, aber doch auch in seiner damals schon spürbaren Romantik beschrieben, wo sich freilich weder ein Achmet noch eine Revolution an Land ziehen ließen. Heiner Müller und Thomas Brasch wollten mir 1974 helfen, dieses Manuskript im Westen zu publizieren. Da ich die begonnene Arbeit über Gramsci als Beitrag zu politischen Reformbestrebungen in der DDR ansah und meine Rolle dabei nicht gefährden wollte, ließ ich es bleiben.

Meine 1980 veröffentlichte Arbeit zu Gramscis Kulturkonzeption hat - in sehr begrenztem Umfang - tatsächlich in dieser Richtung gewirkt. Ich wurde deshalb, auch später, massiv bekämpft. Daraus entstanden Schwierigkeiten, aber keine Tragödie, denn ich erfuhr auch großartige Unterstützung. Diese Kämpfe haben dazu geführt, daß ich mich auch im politologischen Bereich zu Hause fühle und sogar gerne kämpfe. Damals erschien mir der belletristische Bereich aber vollkommen verbaut. Für ein paar Jahre war ich sogar bereit, mich ganz auf die wissenschaftliche Form zu beschränken.

Wäre denn der Roman über den Prenzlauer Berg heute publikabel?

Ich glaube schon. Man müßte ihn mal vorholen. Zumal ich die mythische Qualität, die der Ort später bekam, damals schon deutlich selber gespürt habe. Die ist eingeflossen.

Als Ehefrau eines algerischen Regisseurs haben Sie dann aber doch an Reformbestrebungen in der DDR nicht weiter teilgenommen, sondern sind 1977 nach Algerien ausgewandert. Dort haben Sie dann auch wieder Belletristik geschrieben und fanden zu populären Formen wissenschaftlicher Publizistik. Es entstand „Ein akzeptabler Mann?” - mein Lieblingsbuch von Ihnen.

Die Möglichkeit der legalen privaten Ausreise und des Lebens in einer anderen Kultur entsprach meinem ursprünglichen Interesse, mehr über Flexibilität oder Enge des Menschen zu erfahren.

Wurden Ihre Erwartungen in diesem Punkt erfüllt?

Ja. Es führte aber zu weit, wenn ich auf Einzelheiten eingehe. Ich habe tatsächlich das Gefühl, durch meinen elfjährigen Aufenthalt in Algerien, durch den Vergleich des Lebens in beiden Kulturen, besser beurteilen zu können, was der Mensch ist und kann bzw. was nicht. Das ist wichtig in Fragen des persönlichen Lebens, aber auch in politischen Fragen. Und es hat Bedeutung für die Fixierung schriftstellerischer Standpunkte.

In Algerien nahm ich eine Lehrtätigkeit an der Universität auf, die einerseits zwar hohe Anforderungen stellte, mir wunderbarerweise aber doch etwas Freizeit ließ, um Bücher und Artikel zu schreiben. Das ging nur mit Unterbrechungen, ich brauchte viele Jahre für die Bücher. Aber zum erstenmal fühlte ich mich frei. Ich konnte sowohl im Westen als auch in der DDR publizieren. Alle Fesseln der Selbstzensur fielen. Meine Informationsmöglichkeiten wuchsen. Ende der siebziger Jahre hörte ich von feministischen Angriffen auf Bertolt Brecht in den USA, die bereits auch ihr Echo in der Bundesrepublik hatten. Brecht war der einzige deutsche Autor, dessen Texte und dessen Leben ich ganz gut kannte, u. a. auch, weil mein Freundeskreis enge Beziehungen zum Berliner Ensemble hatte. Daher spürte ich sofort, daß bei den Beschuldigungen vieles an den Haaren herbeigezogen war und keine Fundierung in den wirklichen biographischen Quellen besaß. Auch regte ich mich über die zumeist von Männern vertretene feministische Position auf, die die Benachteiligung der Frauen aus den persönlichen Charaktereigenschaften der Männer ableitet, mit denen sie zu tun haben. Auch hier steckt eine Überforderung der moralischen Ansprüche dahinter, die in diesem Falle nur an die Männer gestellt werden, Frauen erfüllen sie angeblich automatisch.

Ich war und bin überzeugt, daß nur die finanzielle Eigenständigkeit der Personen echte Partnerschaft ermöglicht. Das war auch die Vorstellung des Brecht-Clans. Wenn die Frauen dauerhafte finanzielle Eigenständigkeit nicht erreichten, dann lag das daran, daß weibliche Dramatik damals gar nicht gefragt war (vor Brechts Versuch, 1926 Marieluise Fleißer an der Jungen Bühne zu inszenieren, hatte es an Berliner Theatern nur 1919 eine Inszenierung von „Die Wupper” von Else Lasker-Schüler gegeben) und später an der ihnen aufgezwungenen Exilsituation, keineswegs an der Person Brechts. Ich habe mich damals entschlossen, in den Sommerferien über mehrere Jahre hinweg im Ostberliner Brecht-Archiv die biographischen Zusammenhänge der Liebes- und Arbeitsbeziehungen Brechts nach den vorhandenen Quellen aufzuarbeiten. Zuerst sollte daraus nur eine Serie von Artikeln werden. Dann wurde es ein Buch, für das ich übrigens jahrelang keinen Verleger fand.

Warum?

Wahrscheinlich, weil ich von Algerien aus die beiden deutschen Verlagslandschaften nicht gut einschätzen konnte. Teilweise lag es sicher auch daran, daß der Feminismus, der nur noch die Männer erziehen will, anstatt primär auf die Autonomie der Frauen zu setzen, weltweit in die Offensive kam. Mit den Vorstellungen der Political Correctness zwischen den Geschlechtern kokettierten damals schon nicht nur linke Brecht-Adepten im Westen wie Peter Weiss, sondern auch mehrere männliche Brecht-Forscher im Osten. Sie glaubten wohl, damit nicht im Einklang mit dem Zeitgeist zu stehen, sondern sich auch eine Möglichkeit der Distanzierung von ihrem Übervater zu schaffen.

Heute bin ich weitaus weniger stolz auf meine Verteidigung von Brecht - der das eigentlich gar nicht nötig hat-, sondern darauf, daß ich damals instinktiv, später dann immer bewußter, anhand der Manipulationen, die die Geschichte seiner Schreibwerkstatt erfährt, die Verschiebung des feministischen Paradigmas von der Autonomie der Personen zur bloßen Political Correctness energisch bekämpft habe. In diesem Punkt machte und mache ich auch deshalb keine Kompromisse, weil ich die Ehre hatte, an der damals noch illegalen autonomen algerischen Frauenbewegung teilzunehmen, für die die Autonomie der Individuen ebenfalls der Kernpunkt des Emanzipationsprojekts war. Sie war natürlich auch der Kernpunkt der in den achtziger Jahren in Algerien stattfindenden Demokratiebestrebungen, weshalb auch dort das Thema der „Zivilgesellschaft” aktuell wurde. Mein Buch über „Antonio Gramscis Zivilgesellschaft” bezieht sich nicht weniger auf die Kämpfe um Demokratisierung in Algerien als auf die im Ostblock.

Sie haben in Algerien auch ein belletristisches Werk geschrieben, „Eine Bovary aus Brandenburg”.

Durch den Wegfall der Furcht vor Zensur und Selbstzensur konnte ich endlich auch einen Roman schreiben, ohne auf halber Strecke steckenzubleiben. Er basierte nicht auf meiner, aber auf einer wahren Geschichte, in der sich charakteristische Widersprüche der DDR bündelten: die unvollkommen bleibende Emanzipation von Frauen aus untersten Schichten und das Fernweh als unzähmbarer Impuls. Außerdem konnte ich selbst ein bißchen im Heimweh schwelgen. Obwohl ich in Leipzig geboren bin, betrachte ich Berlin und die Mark Brandenburg unbedingt als meine Heimat. Hier spricht die Natur zu mir. In Leipzig nicht. Wahrscheinlich, weil sie schon zerstört war, als ich geboren wurde.

Wie hatten Sie sich denn als Wissenschaftlerin die in der Belletristik notwendige Naivität erhalten?

Die Bewahrung eines konkreten oder, wenn man so will, auch naiven Zugriffs auf den Stoff war ein Problem, das sich schon mein Vater auch für die Wissenschaft stellte. Auch Gramsci verlangte von den Intellektuellen einen sinnlichen Zugang zu ihrem Stoff und von den Künstlern wiederum auch den Gebrauch der Ratio. Es sind auch Haltungen und Forderungen von Brecht gewesen. Eine Rolle gespielt hat auch meine Überzeugung, daß der Ausgangspunkt der Literatur eine Spurensuche in den Geheimnissen der Wirklichkeit ist.

Der Wirklichkeit? Nicht der Sprache?

In diesem Punkt bin ich altmodisch. Mich interessiert Literatur, wenn ich eine Auseinandersetzung mit der Realität darin erkennen kann. Das kann ein einzelner Punkt sein, das kann ein großes Gesellschaftspanorama sein. Zwar ist auch die Sprache eine Realität, aber eine abgeleitete, gewissermaßen eine Realität zweiter Ordnung. Natürlich ist der Schriftsteller auch auf dieser zweiten Ebene Suchender. Aber für mich findet der größte Teil der Suche in der ersten Realität statt, auch dann, wenn ich einen hübschen Satz oder eine hübsche Stelle früher habe als den ganzen Geschichtsverlauf. Für mein aktuelles Romanprojekt, in dem es um einen Arbeitslosen gehen soll, der in Parks und Wäldern lebt, habe ich z. B. bis jetzt nur eine Szene: wie sich Fische, die gebraten werden, im heißen Öl noch einmal kurz aufbäumen und ihre Muskeln in die für das Schwimmen erforderliche Position bringen. Bei ganz frischen toten Fischen ist das tatsächlich so. Das wollte ich schon lange mal so genau und schön wie möglich beschreiben, ohne zu wissen, wo es mal hinpaßt.

Ich glaube übrigens auch nicht, daß die erste Realität vollkommen in Sprache oder in Zeichen ausdrückbar ist. Die vollkommene Versprachlichung der äußeren, ersten Realität ist eine westliche, rationalistische Illusion. In Wirklichkeit ist die Sprache kulturellem und historischem Wandel, auch Moden, unterworfen. Weglassen, Schweigen oder nichtsprachliche Zeichen können tiefgründiger und sogar genauer sein als Sprache. Allerdings ist der Schriftsteller auf der Ebene der Sprache freier als auf der Ebene der Realität. Diese Freiheit interessiert mich aber weniger als die Suche nach der Komplexität der ersten Realität. Mit der Zeit finde ich, daß der knappste Ausdruck, der von der Komplexität nichts preisgibt, der beste ist. Ich bemühe mich vor allem, einen bestimmten Ton zu finden, ein Timbre, das zum Inhalt paßt. Auch verwende ich ziemlich viel Mühe, um die interessanteste Erzählerperspektive zu finden. Mein nächster Roman wird aus verschiedenen Perspektiven erzählt.

Mein sekundäres Interesse an der Sprache rührt wohl daher, daß mein erster Lesestoff die schnell gemachten Übersetzungen französischer und russischer Romane waren, die in der DDR in den fünfziger Jahren publiziert wurden. Das waren keine Sprachkunstwerke. Meine Eltern verschlangen diese Werke trotzdem, weil sie während des Faschismus geächtet gewesen waren. Zugleich wurde bei uns kaum neuere deutsche Literatur gelesen, sondern eher neuere ausländische, ebenfalls in Übersetzungen. Die Radikalität eines Werks interessierte uns mehr als seine Sprache. Weil wir die Zensurverhältnisse in der DDR kannten, konnte unsere Literatur unserer Meinung nach nicht radikal sein. Ich las durch mein Studium dann weiterhin vor allem italienische und französische Autoren, dann bereits auch schon arabische in französischer Sprache. Von dieser gewissermaßen antideutschen Kultureinstellung bin ich erst in Algerien geheilt worden. Weil Freunde in Ost- und Westdeutschland meinten, sie müßten mich nun mit heimatlicher Literatur versorgen, bekam ich dorthin am laufenden Band DDR-Gegenwartsliteratur geschickt: Kassandra von Christa Wolf, ihre Kindheitsmuster, die Günderrode und Maxie Wanders Frauenprotokolle. In der DDR hätte ich das merkwürdigerweise nie gelesen. Aber in Algerien las ich es und war erstaunt, daß auch an der Zensur vorbei eine gültige Literatur entstanden war. Begeistert war ich vor allem von Irmtraut Morgner, die ich noch nicht mal vom Namen her kannte. Da ich eine Westausgabe der „Trobadora Beatritz” bekommen hatte, hielt ich sie über die ersten dreißig Seiten für eine Westautorin.

Lasen Sie überhaupt auch westdeutsche Autoren oder Autorinnen?

Die Lektüre von Böll und Grass langweilte mich seltsamerweise ein wenig. Bleibenden Respekt erzeugte bei mir Gisela Elsners Bovary-Roman, den ich allerdings erst kennenlernte, nachdem ich meinen eigenen geschrieben hatte. Großartig fand ich auch die Österreicherin Elfriede Jelinek. Trotzdem muß ich sagen, daß ich weiterhin mehr nichtdeutsche Autoren las, nun vor allem arabische. Die Bekanntesten lernte ich persönlich kennen, wie z. B. Rachid Mimouni. Mit Rachid Boudjedra machte ich ein Literatur-Seminar an der Universität. Auf mehrere seiner Romane haben mein Mann und ich Einfluß genommen. Dieser und andere arabische, auch afrikanische Autoren beeinflußten mein Schreiben besonders in dem Punkt, daß ich mich unbeirrt zur Littérature engagée bekenne, engagiert in dem Sinne, daß sie Widersprüche in der Realität aufspüren will.

Und Brecht, hat der Sie nicht beeinflußt?

Im Streben nach Radikalität schon, auch im Streben nach Knappheit. Aber Brecht war raffiniert und hat sich durch seine historisierende Sprache - mal ahmte er Luther nach, mal Schiller und viele andere alte Autoren - für lange Zeit vor Nachahmung geschützt. Wer heute versucht, wie Luther zu schreiben, wird sofort als Brecht-Nachahmer lächerlich. Auch mit der Art, wie er Parabeln baute, sollte man noch einige Jahrzehnte vorsichtig sein, ehe man das wieder versucht. Das, was er in hoher Sprache mit den Parabeln machte, probiere ich in der Form eines drastischen und manchmal auch detailbesessenen Realismus, der durchaus Anleihen beim Nouveau roman macht. Die Brechtsche Parabelform eignet sich auch deshalb nicht, weil die historische Fortschrittskurve, in der Brecht sie situierte, zerbrochen ist. Ehe Essenzen - d. h. Bilder - wieder glaubwürdig werden, muß erst einmal die Glaubwüdigkeit des Details wiederhergestellt werden. Damit will ich nicht die Glaubwürdigkeit der Brechtschen Parabeln in Zweifel ziehen, sondern nur die Gültigkeit der Methode für heute.

Seit 1988 leben Sie in Westberlin. Wieso entstand seitdem vor allem populärwissenschaftliche Literatur?

Es stimmt nicht ganz. Die „Bovary aus Brandenburg” habe ich erst in Westberlin druckreif gemacht. Meine Lektorin vom Verlag der Morgen bekam im Herbst 1988 einen Paß, damit wir zusammenarbeiten konnten. So unwichtig war ein Jahr vor der Wende bereits der Wohnort des Autors, so wichtig wiederum wurde damals aber die Lektoratsarbeit genommen! Das Buch kam dann aber erst 1991 heraus, schon unter dem neuen Besitzer.

Wir hatten Algerien wegen des aufkommenden Islamismus verlassen, der damals das Berufsleben in den Medien (mein Mann war Regisseur beim Fernsehen) und in der Universität unerträglich machte. Anfang der neunziger Jahre war dann die internationale Beunruhigung über das, was sich in Algerien anbahnte, so groß, daß ich ein Buch über die Ursachen und die Gestalt dieser Krise schreiben mußte. Zwischen Traum und Alptraum. Algerische Erfahrungen erschien 1993. Dadurch bekam ich vielfältige Möglichkeiten, die deutsche Öffentlichkeit über Zeitungen, Rundfunk, Fernsehen und vor allem auch mit Vorträgen zu informieren. Dabei kam unser Verhältnis zum Islam generell zur Sprache. Es galt, dem Publikum zu erklären, daß nur sehr wenige Muslime Terroristen sind, daß aber islamistischer Terrorismus dennoch eine Realität war, der man ins Auge sehen mußte. Das war eine komplizierte, teilweise auch gefährliche Aufgabe, zumal sich viele Islamisten auch in Europa als die wahren Muslime hinstellten und den Terrorismus als Widerstandsrecht definierten. Die deutsche Regierung und zeitweise die ganze Europäische Union waren einer Machtübernahme der Islamisten in Algerien nicht abgeneigt. Zum Glück erlaubte mir die demokratische Situation, Argumente beizubringen, die dagegen sprachen.

Zwischen 1993 und 1997, als „Ich fragte nicht nach meinem Anteil. Elisabeth Hauptmanns Arbeit mit Bertolt Brecht” erschien, lagen fünf Jahre. War das eine Schreibpause?

Nein. Ich arbeitete viel journalistisch, hielt diese Vorträge in großen und vor allem auch in vielen kleinen Orten der Bundesrepublik, auch in Österreich und in der Schweiz. In der Zeit, die mir blieb, arbeitete ich an einer Erzählung über die Wende. Auch an der Wende interessierten mich rasch die supranationalen Aspekte. Ziemlich schnell war klar, daß sie nicht nur die DDR, sondern ganz Osteuropa erfassen würde. Und es war auch schnell klar, daß Osteuropa sich erneut in den abhängigen Hinterhof Westeuropas verwandeln würde, der es vor dem Zweiten Weltkrieg gewesen war. Der Hinterhofcharakter Polens war sogar im Verhältnis zur DDR nie wirklich verschwunden. Es fand ja ein inoffiziell geduldeter, riesiger Schwarzhandel statt, der auf immense Arbeitslosigkeit deutete. Auch hatten wir polnische Arbeitskräfte, besonders in grenznahen Gebieten.

Für meine Erzählung inspirierte ich mich nochmals an einem französischen Klassiker, an Mérimées „Carmen”, teilweise auch am Opernlibretto. Meine „Karmen” ist eine polnische Zigeunerin, die in so einem grenznahen Betrieb arbeitet, bis sie im Verlauf eines rassistischen Zwischenfalls entlassen wird. Bei der Abschiebung verliebt sich der Grenzer Müller in sie. Als sie dann Schwarzhändlerin wird, ist er ihr Komplize. Die Geschichte spielt vor und nach der Wende, wo sich die Kräfteverhältnisse zwischen den beiden noch einmal verschieben. Aber das für mich schon immer Faszinierende an der Carmen-Gestalt ist, daß diese Frau sich nicht in den sicheren Hafen locken läßt, den ihr Don José/Müller bietet. Sie verteidigt ihre Autonomie bis zum letzten, zum Tod. Aber meine Karmen läßt sich nicht abschlachten, weil eine Frau von heute sich eben zur Wehr setzen kann. Indem sie ihre Autonomie verteidigt, ist sie natürlich eine Idealgestalt.

In der Realität bieten sich osteuropäische Frauen massenweise zur billigen Prostitution im Westen an und träumen wahrscheinlich von einem Mann wie Müller. Durch einen ziemlich drastischen Realismus in der Erzählweise verweise ich auch nachdrücklich auf diese Realitäten. Leicht erkennbar spielt meine Geschichte in Frankfurt/Oder und Slubice, teilweise auch auf der Oderbrücke, die für mich der gegenwärtig wichtigste mythische Ort Europas ist. Ich fahre auch oft hin, lasse mir den Grenzwind um die Nase wehen. Es ist der Ort, an dem die noch lange nicht gelöste historische Herausforderung der Wende von 1989 für jeden spürbar ist.

Für dieses Projekt fand ich bei verschiedenen Verlagen zwar begeisterte Lektoren, stets aber ablehnende Marketing-Abteilungen. Als mich der Grafiker Rainer Ehrt mit ein paar von „Karmen” inspirierten Grafiken überraschte, beschlossen wir, den Text und die Grafiken zusammen privat herauszugeben - was ja heutzutage leicht möglich ist.

Warum, glauben Sie, haben die Verlage abgelehnt?

Vielleicht, weil die Heldin - eine mehr und mehr verlumpende, nur in ihrer Würde intakt bleibende Person - den Lesern keine einfachen Identifikationsmöglichkeiten zu bieten scheint. Im Sozialismus hätte mich niemand dazu gebracht, eine sogenannte positive Heldin zu schaffen, und heute wird mich niemand dazu bringen, eine jener flotten Alleskönnerinnen zu schaffen, die der Markt heute will. Meine Geschichte ist zwar durchaus unterhaltsam, entspricht aber nicht gegenwärtigen, ziemlich seichten Vorstellungen über unterhaltsame Literatur. Unter dem Mantel einer Fiktion wird hier deutlich auf äußerst unangenehme, schmutzige Probleme gewiesen, die zur Zeit niemand sehen, geschweige denn lösen will. Die häufig angeschwemmten Oderleichen sind stumm. Auch das täglich tausendfach geschändete Fleisch der osteuropäischen Prostituierten ist stumm. Es ist mir aber eine Genugtuung, daß wenigstens die Bevölkerung an den Grenzen ein gewisses Bewußtsein der dramatischen Lage hat, in der sich ihre Nachbarländer befinden. Trotz der spürbaren Präsenz von osteuropäischer Mafia gibt es nicht nur Verteidigungshaltung und Haß, sondern auch mahnende Lichterketten und vor allem viele Initiativen, doch irgendwelche gemeinsame Perspektiven zu entwickeln.

Obwohl ich zur Zeit nur als Autorin von Sachbüchern gefragt bin, gebe ich das belletristische Schreiben nicht auf. Es wäre mir sogar recht, wenn es zu meiner Hauptbeschäftigung werden könnte. Zwischen dem Buch über Elisabeth Hauptmanns Arbeit mit Brecht und der jetzt fertig gewordenen Biographie Helene Weigels habe ich mit meinem Mann zusammen die moderne Version erotischer Geschichten aus 1001 Nacht zu Papier gebracht, die er über viele Jahre im freien Erzählen vor algerischem, französischem und nun vor allem auch deutschem Publikum entwickelt hat. In dieser schriftlichen Form sind einige Teile auch von mir, was man aber wohl nicht merkt. Wir wollen als Doppelautoren auftreten. Ein Wahnsinnstext überschäumender orientalischer Phantasie, dennoch zugleich eine Spurensuche, die auch auf heutige Gegebenheiten zielt. Realismus und Fiktion schließen sich ja keineswegs aus, im Gegenteil: Manche Realität wird erst in der fiktionalen Überschärfung wahrgenommen.

Das Gespräch führte Diether Dehm
 


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 02/00 © Edition Luisenstadt, 2000
www.berliner-lesezeichen.de

zurück zur vorherigen Seite