Rezension von Karl-Heinz Arnold



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USA und der Rest der Welt

 

Lester C. Thurow: Die Reichtums-Pyramide
Aus dem Amerikanischen von Birgit Schöbitz.

Metropolitan Verlag, Regensburg 1999, 303 S.

 


Im selben deutschen Verlag ist 1996 das bisher bedeutendste Buch von Lester Thurow erschienen: Die Zukunft des Kapitalismus (siehe LeseZeichen 7/1996). Die nun vorliegende neue Arbeit hat in der Originalausgabe den Titel: Building Wealth, New Rules for Individuals, Companies and Nations in a Knowledge-Based Economy. Sie beschäftigt sich mit der wissensbasierten Wirtschaft, die im 21. Jahrhundert für Industrieländer mehr oder weniger kennzeichnend sein wird, und versucht die Frage zu beantworten, wie eine Gesellschaft umstrukturiert werden muß, damit wirtschaftlich angewandtes Wissen Wohlstand schaffen kann. So jedenfalls die Absicht des Autors. Das Buch ist ein interessanter, wenn auch stark apodiktisch gehaltener Beitrag zu einem hochwichtigen Thema, geschrieben aus der Sicht eines US-Establishments und für dieses publiziert. Es erreicht nicht die Qualität der Zukunft des Kapitalismus, jener Veröffentlichung, die Thurow als einen der wichtigsten Vordenker seines Gesellschaftssystems ausgewiesen hat.

Der Professor für Wirtschaftswissenschaften am MIT, der renommierten Universität Massachusetts Institute of Technology, möchte mit seinem neuen Werk erkennbar eine Ermutigung für US-Führungskräfte und deren Nachwuchs bieten, bis hinein in die mittlere Ebene. Er verkündet die altbekannte Aufforderung ganzer Generationen von Politikern und Wissenschaftlern an alle US-Amerikaner, selbst „die Baumeister ihres Erfolgs zu werden”, ergänzt durch einen geradezu propagandistischen Optimismus: „Die einzige Nation, die sich von der um sich greifenden Zukunftsangst nicht anstecken läßt, scheint Amerika zu sein. Die USA sind wieder da! Amerika (und damit sind stets die Vereinigten Staaten von Nordamerika gemeint, KHA) steht in den neunziger Jahren an der Spitze der industriellen Welt. Die ökonomische Kluft zwischen Amerika und dem Rest der Welt wird wieder einmal größer.” Und noch einmal diese überhebliche Formulierung: „Das Zugpferd Amerika zieht wieder einmal den Rest der Welt.”

Einen Teil seiner euphorischen Sicht hat Thurow aus der ost- und südostasiatischen Finanzkrise in der ersten Hälfte des Jahres 1999 abgeleitet. Das in den USA lange Zeit fast traumatisch gefürchtete Wachstum der Wirtschaft und angewandten Wissenschaft in den Staaten dieser Region „fällt nun zusammen wie ein Kartenhaus”. Das Buch, in dem diese Feststellung steht, ist bei Harper Collins, New York, im Juni 1999 erschienen. Schon ein Quartal später hätte der Verfasser seine vernichtende These über diese Konkurrenten, die sich tatsächlich relativ rasch erholen, kaum so scharf oder überhaupt nicht mehr formuliert. Auch auf dem „europäischen Festland”, gemeint ist die EU, steht es nicht gut. Das, so Thurow, „gepriesene Modell der sozialen Marktwirtschaft”, von ihm stets bekämpft, funktioniert nicht mehr, zweistellige Arbeitslosenquoten „werden inzwischen als Normalität angesehen”.

Im Gegensatz zu seinem Lobgesang auf die Wirtschaft der USA und ihre internationale Stellung steht die Einschätzung der Lage der meisten Erwerbstätigen, die er in dem Buch gegeben und im Herbst 1999 in einem „Stern”-Interview (Heft 40/1999) wiederholt hat: In den USA seien elf Millionen Jobs geschaffen worden, „unterm Strich aber nur im Servicesektor. Die Industrie hat abgebaut.” Aber „der Durchschnittslohn im US-Dienstleistungssektor ist geringer als die Arbeitslosenunterstützung in Frankreich”. Und: „Zwei Drittel der Erwerbstätigen haben ein Realeinkommen, das unter dem von 1973 liegt”. Und: „Neue Stellen lassen sich nur auf zwei Arten schaffen, durch rasantes Wachstum oder durch Senkung der Löhne. Amerika hat sich für den zweiten Weg entschieden.” Also wurde während dieses Jahrzehnts „kein echter Wohlstand geschaffen”. Thurow hätte genauer sagen sollen, daß der Lebensstandard gesunken ist - zugunsten von hohen, geradezu märchenhaften Profiten abgesenkt wurde. Gegen die in den USA verbreiteten Zukunftsängste, ausgelöst durch solche Tatsachen, will der Professor offenbar anschreiben. Er war schon immer ein Mutmacher.

So tritt er nun ein für den „Bau einer beständigen Reichtumspyramide”, und zwar mit Hilfe von „sechs neuen Technologien”: Mikroelektronik, Computer- und Telekommunikationstechnik, neuartige Werkstoffe, Roboter- und Biotechnik. Eine Definition des international recht verschwommen gehandhabten Begriffs Technologie bietet er nicht.

Die Analysen und vor allem die Prognosen in dem Buch zeigen einen fast religiös anmutenden Glauben an die in zweihundert Jahren gewachsene Gesellschaft der USA. Sie lassen zugleich die Sorge des Autors um ihren Fortbestand erkennen, wenn er auf Tatsachen zu sprechen kommt, die einem Ausnutzen der wichtigsten wissenschaftlich-technischen Faktoren des 21. Jahrhunderts entgegenstehen, speziell „die mangelnde Qualifikation der unteren zwei Drittel der Arbeiterschaft” (im ungeliebten Westeuropa sieht es damit zwar nicht rosig, aber doch etwas besser aus). Thurow will einerseits Optimismus verbreiten und tritt andererseits als Mahner auf: „Nichts zu tun und die nötigen Investitionen in Fort- und Weiterbildung dem einzelnen zu überlassen heißt letztlich, die Ebene der Reichtumspyramide, die aus Kenntnissen und Fertigkeiten aufgebaut ist, den ungezügelten Kräften des freien Marktes überlassen. Die Vernachlässigung der Kenntnisse und Fertigkeiten wird die amerikanische Reichtumspyramide zu Fall bringen - ebenso wie die Pyramiden der Mayas in Zentralamerika durch die Kräfte des Dschungels einstürzen.” Die hier zum Ausdruck kommende partielle Abkehr vom allein selig machenden Markt ist neu bei Thurow.

Seine Stärke liegt in griffigen, auf den Kern eines Vorgangs reduzierten Thesen. Drei Beispiele: „Globale Konzerne expandieren, nationale Regierungen schrumpfen.” Oder: „Die Gewinne des Kapitals steigen, und die Löhne sinken. Auf globaler Ebene ist im Vergleich zum Kapital Arbeitskraft im Überfluß vorhanden, mehr noch als in den Industrienationen heute. Folglich steigt das Einkommen der Kapitalgeber, während das der Arbeitnehmer sinkt. Ebenso steigt das Einkommen der qualifizierten Arbeitskräfte, während das der ungelernten Arbeiter sinkt.” Und: „Viele der Wirtschaftsregionen werden in der globalen Wirtschaft nicht vertreten sein. Ohne qualifizierte Arbeitskräfte und ohne moderne Infrastruktur kann kein Staat am globalen Spiel teilnehmen.” Afrika und einen weiteren Rest der Welt hat Thurow also bereits abgeschrieben.

Die Weisheiten werden in der kühlen Diktion des Wirtschaftswissenschaftlers verkündet, der nicht den geringsten Zweifel an der Richtigkeit seiner Ansichten hat. Sie sind Kapitalismus pur, haben also weder mit Moral noch mit Humanismus zu tun. Geld machen, darauf läuft alles hinaus. „Asien bietet generell die Möglichkeit, zu großem Reichtum zu kommen”, doziert er. „Man muß lediglich den Transfervorgang beherrschen und wissen, wann der richtige Zeitpunkt gekommen ist (angemessenes Bildungsniveau, optimale Einkommenshöhen, entsprechend ausgebaute Infrastruktur, die ,richtige` Regierung), um den dortigen Markt mit alltäglichen Waren und Dienstleistungen aus der Ersten Welt zu überschwemmen.”

Diese Waren und Leistungen aus eigener Kraft und zum Nutzen des eigenen Landes, der eigenen Bevölkerung der asiatischen Staaten zu bewerkstelligen, ist für Thurow keine Alternative. Er predigt - na, was denn schon! - den Maximalprofit: „Unternehmen können nur dann ein hohes Wachstumspotential mit enormen Gewinnspannen schaffen, wenn sie es verstehen, ein technologisches oder entwicklungsbedingtes Ungleichgewicht (etwa zwischen den USA und Malaysia oder zwischen Hongkong und dem umliegenden „Rest” von China, KHA) für sich nutzen”, heißt es in einem der von Thurow aufgestellten Leitsätze. „Alle anderen Aktivitäten laufen auf langsames Wachstum und geringe Renditen hinaus.”

Die Unverblümtheit, mit der dieser Mann seine Thesen vertritt, verblüfft und fasziniert auf den ersten Blick. Auf den zweiten Blick stößt sie ab. Wer Marx' „Kapital” auf den neuesten Stand aktualisiert haben möchte, sollte Thurow lesen. Die von ihm gedachte Reichtumspyramide besteht an der Spitze aus den Milliardären und Millionären der USA, deren Zunahme auch im internationalen Vergleich Thurow höchst befriedigt feststellt. An der breiten Basis besteht die Pyramide aus den einfachen und einfachsten Arbeitnehmern in Gottes eigenem Land. Die gedachte Herkunft des abgestuften Reichtums ist leicht zu erraten. Er kommt vom Rest der Welt.

Die rund hundert dem Text angefügten „Anmerkungen” sind lediglich Hinweise auf fast ausschließlich US-amerikanische Publikationen, zumeist Fachliteratur. Ein üppiges Stichwörterverzeichnis erleichtert die Arbeit mit diesem scheinbar leichthändig geschriebenen Buch. Es bietet eine Fülle Diskussionsstoff, zugespitzte Erkenntnisse und Schlußfolgerungen, aber auch unbewiesene, in den Raum gestellte Thesen - „sogar das Problem des Ozonlochs ist vielleicht schon bald gelöst”, meint der Autor beispielsweise, wohl wissend, daß die USA der größte und unbelehrbarste Ozonlochverursacher sind. Das nächste Jahrzehnt wird zeigen, was an den Prognosen seriös und was nur eine artistisch gehandhabte Stange im Nebel war.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 01/00 © Edition Luisenstadt, 2000
www.luise-berlin.de

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