Rezension von Kurt Wernicke



In der Höhle des Löwen 1939/40

William L. Shirer: This is Berlin
Rundfunkreportagen aus Deutschland 1939-1940.
Herausgegeben von Clemens Vollnhals.
G. Kiepenheuer Verlag, Leipzig 1999, 416 S.


Der amerikanische Journalist William Lawrence Shirer (1904-1993) ist dem deutschen Leser bereits in den sechziger Jahren bekannt geworden durch sein Buch Aufstieg und Fall des Dritten Reichs (1961; deutsch 1969), das ihn als einen entschiedenen Nazi-Gegner auswies. Der für einen amerikanischen Mittelwesten-Liberalen schon naturgegebene Abstand zu einem totalitären Regime wandelte sich bei ihm zur ausgesprochenen Feindschaft zum NS-System durch seine Nähe zu dessen alltäglichen Erscheinungsformen während seiner Tätigkeit als Korrespondent von US-Print- bzw. -Funkmedien in Berlin, die er - mit erheblichen Unterbrechungen - zwischen 1934 und 1940 ausübte. 1937 war er Mitteleuropa-Korrespondent der amerikanischen Radiokette Columbia Broadcasting System (CBS) mit Sitz in Wien und Genf geworden. Angesichts der sich zuspitzenden Kriegsgefahr schickte ihn seine Rundfunkanstalt im August 1939 als guten Kenner der Verhältnisse wieder in die unmittelbare Höhle des Löwen, damit er die amerikanischen Hörer durch tägliche Reportagen über den Lauf der Ereignisse aus Berliner Sicht (natürlich kommentiert) vertraut mache. Mit dem Abstand von über einem halben Jahrhundert und inzwischen vertraut mit der Aktenlage, also auch mit den Ereignissen hinter den Kulissen, liest man Shirers Reportagen aus der letzten Augustdekade 1939 doch mit einigem Erstaunen: Selbst er, der doch von der Aggressionswut der Nazis überzeugt war, berichtete brav von der Spannung, ob Krieg oder Frieden sein würde, weil auch er immer noch ein Quentchen Hoffnung auf eine Verhandlungslösung hegte.

Mit Ausbruch des Krieges setzte für Shirers nächtliche Übertragungen aus dem Berliner Funkhaus in der Masurenallee, die der amerikanischen Hörerschaft durch die Zeitverschiebung im CBS-Frühabendprogramm zugänglich wurden, eine mit militärischen Notwendigkeiten begründete Zensur ein. Die im vorliegenden Buch versammelten mehr als 180 Reportagen glänzen vornehmlich durch Shirers Kunst, zwischen den Zeilen Zustände zu beschreiben, ironische Untertöne durchschimmern zu lassen und durch scheinbar urteilsloses Zitieren aus der gleichgeschalteten Nazi-Presse die Goebbels-Propaganda durch sich selbst zu entlarven. Der tiefe Witz z.B. des über viele Tage wiederholten Mitteilens geringer deutscher und gewaltiger englischer Verluste in der Luftschlacht über England im Spätsommer und Herbst 1940 aus dem OKW-Bericht sowie die kontinuierliche Wiederholung des deutschen Entzückens über die eigenen Bombenangriffe auf England, verbunden mit dem steten Aufheulen über britische „Mörder”-Piloten, die Bomben auf deutsches Reichsgebiet abwarfen, erschließt sich selbst dem jahrzehntelang geübten Konsumenten von DDR-Presse so richtig erst bei wiederholter Lektüre. Da die drastisch verschärfte Verhängung von Todesurteilen bei kleineren Vergehen zur Abschreckung in der deutschen Presse groß publiziert wurde, konnte die Zensur auch nicht eingreifen, wenn Shirer solche Urteile zitierte und seinen Hörern z.B. mitteilte, daß für den Raub einer Handtasche ein Täter aufs Schafott geschickt wurde. Daß er den damals radiobesitzenden Amerikanern - also ab amerikanischer Mittelklasse aufwärts - durch die detaillierte Schilderung der Lebensmittel- und Textilrationierung Schauer über den konsumgesellschaftlich „gestählten Rücken” jagte, muß nun allerdings bei Europäern mildes Lächeln hervorrufen: Europäer haben im 20. Jh. immer mal wieder (nicht unbedingt nur in Kriegen) Rationierungen kennen- und damit zu leben gelernt...

Einen gewissen Lernprozeß mußte Shirer hinsichtlich seiner Berichte zur Wirksamkeit der deutschen Militärmaschinerie absolvieren: Zunächst versuchte er, deren Effektivität - die 1939/40 tatsächlich nicht zu übersehen war - kleinzureden. Dann aber, nach den Erfahrungen als Augenzeuge beim verzweifelten, aber nutzlosen Versuch der polnischen Verteidiger von Gdingen/Gdynia, der deutschen Angriffswalze standzuhalten, änderte er den Ton seiner Militärkommentare. Im Zusammenhang mit dem deutschen Überfall auf Norwegen und dem deutschen Angriff im Westen betonte er immer wieder - keineswegs zu Unrecht - die entscheidende Bedeutung der deutschen Luftherrschaft für den erfolgreichen Verlauf der Bodenoperationen der Wehrmacht. In seinen Reportagen aus Berlin kam dieser Standpunkt, der sich durch Reisen an die Front während des deutschen Westfeldzuges noch bedeutend verstärkte, natürlich nur ganz verhüllt vor. Dennoch zielte er beim amerikanischen Hörer auf die Einsicht, daß die gewaltige USA-Luftfahrtindustrie eine bedeutende, wenn nicht entscheidende, Rolle zu spielen hätte bei der Verschiebung des bestehenden Ungleichgewichts zugunsten der von amerikanischer Sympathie begleiteten Briten - wenigstens solange diese noch dem Druck des Naziregimes standzuhalten vermochten. Mit der Darstellung der welt- und damit auch die USA bedrohenden deutschen Militärmaschinerie glaubte er, seinen Beitrag zur Überwindung des amerikanischen Isolationismus leisten zu können, der einem offenen militärischen Eingreifen der USA an der Seite Großbritanniens im Wege stand.

Als Shirer Anfang 1941 wieder in den USA weilte, gab er alsbald sein „Berliner Tagebuch” (1941, deutsch 1991; vgl. unsere Rezension in H.9/95) heraus, das mit der Kompetenz des Insiders ein treffendes Bild von der Bedrohung der demokratischen Werte (die für den Amerikaner traditionell mit den seinen zusammenfallen) durch den Nazismus zeichnete. Durch seine öffentlichen Auftritte unterstrich er diese Position noch eindrucksvoll. Als die USA dann im Dezember 1941 wirklich in den Krieg mit Nazi-Deutschland eintraten, weilte Shirer schon wieder in Europa - diesmal aber auf der anderen Seite der Front in London.

Herausgegeben wurden die im Nachlaß Shirers von seiner Tochter gefundenen Typoskripte der Reportagen nur in einer Auswahl, über deren Kriterien nur ungenügend Auskunft gegeben wird. Was sind z.B. (S. 27) die „unnötigen Wiederholungen”, die dem Leser erspart bleiben? Mit welchem Maßstab wird gemessen, wenn die Belastung des Lesers durch das „unvermeidliche Übergewicht” der täglichen Frontberichterstattung vom Herausgeber reduziert wird? Man muß den Eindruck gewinnen, daß Kürzungen im Material durch die Auswahl nach den Bedürfnissen und Aspekten des speziellen Forschungsfeldes des Herausgebers motiviert sind: nicht Ereignis-, Geistes- oder Journalistikgeschichte soll mit der Publizierung der Reportagen bedient werden, sondern das Feld der Totalitarismusforschung. Denn Clemens Vollnhals ist stellvertretender Direktor am Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung e.V. in Dresden. Wer sich dieser zeitgeistigen Beschäftigung mit Faschismus, Nazismus und dem Kommunismus genannten Realsozialismus widmet, ist mehr auf das Große und Ganze denn auf Details fixiert. Er kann daher z.B. (S.265) im Kommentar den preußischen Kronprinzen Wilhelm mit dessen Bruder, dem SA-Führer August Wilhelm, verwechseln; er kann den sowjetischen Botschafter im September 1940 als A.Merekalow identifizieren, obgleich es Wladimir G. Dekanossow (allerhöchstens noch dessen Vorgänger A.Schkwarzew) war, der zu diesem Zeitpunkt die UdSSR in Berlin vertrat; und er muß nicht wissen, daß die von Shirer häufig zitierte „Berliner Börsen-Zeitung” in einer Berliner und einer Reichs-Ausgabe erschien, so daß unterschwellig mehrmals von Shirer zitierte Passagen in Zweifel gezogen werden, weil man sie in der zur Überprüfung herangezogenen Ausgabe nicht gefunden hat.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 01/00 © Edition Luisenstadt, 2000
www.luise-berlin.de

zurück zur vorherigen Seite