Rezension von Eberhard Fromm



„Linien der Vergangenheit ...”

Helmut Schmidt: Jahrhundertwende
Gespräche.
Wolf Jobst Siedler Verlag, Berlin 1998, 250 S.


Das Buch folgt den Modetrends unserer Tage. Am Ende des 20. Jahrhunderts wächst die Flut solcher Veröffentlichungen, die sich in der einen oder anderen Weise mit diesem Jahrhundert beschäftigen: globale Übersichten und Chroniken, Darstellungen einzelner Bereiche, Erinnerungen und zeitgenössische Betrachtungen. Und es ist üblich geworden, erfolgreichen Fernsehsendungen das „dazugehörige” Buch folgen zu lassen. Helmut Schmidt will mit diesem Buch „Linien der Vergangenheit über Brüche hinweg weiter auf Richtpunkte der Zukunft” ziehen. Und es handelt sich hierbei um eine Gesprächsreihe, moderiert von Christoph Bertram, die 1998 im Fernsehen ausgestrahlt worden ist - allerdings sind die veröffentlichten Texte umfänglicher.

Der Altbundeskanzler hat sich zehn Politiker aus aller Welt als Gesprächspartner ausgesucht, von denen zum Zeitpunkt des Gesprächs allerdings nur noch Helmut Kohl aktiv in der Politik stand. Neben den Deutschen Rainer Barzel, Henning Voscherau und Ralf Dahrendorf gehören dazu die Amerikaner Jimmy Carter und Henry Kissinger, der Russe Michail Gorbatschow, der Franzose Valéry Giscard d'Estaing und der israelische Politiker Shimon Peres. Eröffnet wird der Band mit dem Gespräch zwischen Schmidt und Lee Kuan Yew aus Singapur. Für den Leser wären ein paar biographische Daten und Angaben zu dem politischen Wirken der zehn Gesprächspartner sicher hilfreich gewesen.

In jedem der Gespräche gibt es natürlich spezifische Aspekte, die sich aus der Herkunft und dem politischen Standort des jeweiligen Gesprächspartners ergeben. Darüber hinaus werden aber auch immer wieder übergreifende Probleme diskutiert, vor allem die Entwicklung seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und die neuen globalen Erfordernisse im nächsten Jahrhundert.

Carter und Schmidt sind sich zum Beispiel einig, daß kein Politiker und auch kein Nachrichtendienst die Veränderungen, die zum Zusammenbruch der Sowjetunion führten, vorhergesehen habe. Shimon Peres stellt fest, daß die USA mit der Sowjetunion ihren Feind und damit in gewissem Sinne auch ihre Außenpolitik verloren hätte. Und auch Michail Gorbatschow hält den USA vor, daß sie immer noch versuchen, „uns politische Spiele aufzuzwingen und den Kampf um Einflußsphären zu führen”. Ralf Dahrendorf nennt 1989 ein Schlüsseldatum wie 1945 mit einer enormen Chance zur Freiheit.

Helmut Schmidt ist in allen Gesprächen darum bemüht, die Aufmerksamkeit auf die anstehenden Entwicklungsprobleme der Welt, Europas und Deutschlands im 21. Jahrhundert zu lenken. Dazu gehört die Entscheidung, ob zukünftig die Expansion der großen Unternehmen die Welt beherrschen wird oder ob die nationalen Parlamente und Regierungen ein Mindestmaß an Kontrolle behalten werden. Dazu gehört auch - gerade in Deutschland - der Abbau von Überregulierungen, jedoch ohne einen Rückfall in soziale Rücksichtslosigkeit, die er bei Ronald Reagan und Magarethe Thatcher kritisiert. Europa, so seine Forderung, müsse am Beginn des neuen Jahrhunderts krisenfest gemacht werden.

Einen interessanten Aspekt bringen die Politiker aus den USA und Israel in die Debatte ein. Sie weisen auf Zusammenhänge zwischen Politik und Moral hin, die ansonsten meist unberücksichtigt bleiben. So merkt Henry Kissinger an, daß in den USA politische Konzepte immer als Ausdruck moralischer Prinzipien dargestellt werden, was im Ausland oft als scheinheilig empfunden werde. Und Shimon Peres verkündet als Forderung: „Israel hat in den ersten fünfzig Jahren um seine physische Existenz gekämpft, die kommenden fünfzig Jahre wird es um seine moralische Identität kämpfen.”

Die Gespräche belegen auch recht unterschiedliche Auffassungen über Politik und die Rolle von Politikern. Längst nicht alle schließen sich der nüchternen hanseatischen Sicht von Helmut Schmidt an, der seine Ansicht so umschreibt: „Es kommt nicht darauf an, in der Geschichte später eine wichtige Figur zu sein, sondern heute und hier und für morgen meine Pflicht anständig zu erfüllen.”


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 01/00 © Edition Luisenstadt, 2000
www.luise-berlin.de

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