Rezension von Monika Melchert



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Goethe aus allen Perspektiven

 

Hans Mayer: Goethe
Herausgegeben von Inge Jens.

Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M. 1999, 448 S.

 

Angelika Reimann: Zwischen Pflicht und Neigung
Johann Wolfgang von Goethe im Herzogtum Sachsen-Weimar.
quartus-Verlag, Bucha bei Jena 1999, 446 S.


Kurz vor Ende des Goethe-Jahres 1999 lohnt noch einmal ein Blick auf neue Bücher zum 250. Geburtstag des Dichters. Die Thüringer Germanistin Angelika Reimann, Jg. 1955, hat in diesem Kontext der zahllosen Neuerscheinungen etwas durchaus Besonderes vorgelegt: eine Monographie, die das Herzogtum Sachsen-Weimar zum Darstellungsmittelpunkt macht und aus einer ungeheuer präzisen Quellenkenntnis heraus arbeitet. Dabei ist ein sehr persönliches Buch entstanden, geschrieben in einer leicht lesbaren, anmutigen, ja heiteren stilistischen Tonlage, die eine weibliche Sicht erkennbar macht. Angelika Reimann hat sich seit 1991 fast fünf Jahre im Auftrag des Züricher Artemis & Winkler Verlages der Arbeit an der umfangreichen, achtbändigen Chronik Goethes Leben von Tag zu Tag verschrieben, hat am Band 6 mitgewirkt und die Bände 7 und 8 allein besorgt. Dadurch hat sie sich tief in ihr Material eingearbeitet, ist quasi zur Chronistin geworden. So entstand ihr Projekt, ein eigenes Goethe-Buch zu schreiben. In einem Interview in der Zeitschrift „Palmbaum. Literarisches Journal aus Thüringen” (1/1999) gibt sie Auskunft über den langen, oft mühseligen Weg durch die Quellen und Recherchen: „Bis sich dann nach den ersten wirklich mühsamen Arbeitsmonaten das von mir Erhoffte tatsächlich einstellte: Ich lernte zu sehen. Goethe und die Menschen seiner Umgebung, Christiane und Sohn August, Herzogin Louise und Herzog Carl August, die Mitarbeiter Eckermann und Riemer, selbst Freunde wie Carl Friedrich Zelter und Sulpiz Boiserée wurden vor meinem geistigen Auge lebendig, als Individuen, aber auch in ihren vielfach verflochtenen und vielfach bedingten Verhältnissen zueinander, in ihrem Streben, ihren Erfolgen und in ihren Niederlagen. Allmählich begann ich, die Vergangenheit zu verstehen, Goethe in seiner Zeit wirklich zu begreifen. Das war ein derart beglückendes Erlebnis für mich, daß ich mir vorgenommen habe, nach Vollendung der Chronik ein eigenes Goethe-Buch zu schreiben, das vielleicht auch anderen Menschen helfen kann, so ein wichtiges Stück unserer nationalen Kulturgeschichte, wie es die Goethe-Zeit darstellt, zu erleben und zu verstehen.” Dieses Vorhaben ist vollauf gelungen. Selten habe ich ein so persönliches Goethe-Bild vermittelt bekommen, dabei fest verankert in den historischen und sozialgeschichtlichen Koordinaten seiner Epoche. Der kleine rührige Thüringer quartus-Verlag, der als ein Schwerpunkt seiner verlegerischen Tätigkeit Beiträge, zur Literatur, Historie und Kulturgeschichte des Thüringer Raumes herausgibt, war dabei genau der richtige Partner.

Der regionale Rahmen der Darstellung schränkt das Gesamtbild keinesfalls ein, denn Goethe hat schließlich fast sechs Jahrzehnte seines Lebens in Weimar und Jena verbracht, und zwar gerade die Hauptschaffenszeit. Goethes Wege führten immer wieder nach Weimar zurück, denn der Herzog hatte ihm hier einen geistig-materiellen Rahmen zur Verfügung gestellt, den er ausschreiten und zuweilen auch durchbrechen konnte, an dem er sich gerieben, der ihn jedoch am Ende immer wieder produktiv gemacht hat. Entstanden ist also keine Biographie des Dichters, sondern eine monographische Darstellung seines Lebens als Künstler, Staatsminister, Schauspieldirektor und nicht zuletzt als Privatmann, als Liebender, als Vater und Freund. In neun großen Hauptabschnitten widmet sich die Autorin diesen zentralen Kreisen seiner Existenz, so etwa in den Kapiteln „Der Freund des jungen Herzogs”, „Lust und Last der Ämter”, „Charlotte von Stein, die Besänftigerin”, „Leben mit Christiane”, „Das Bündnis mit Schiller, dem Geistesantipoden”, „Ein Vierteljahrhundert Theaterdirektor” und schließlich „Einsamkeit und Vollendung”. Auf diese Weise spielt die italienische Reise Goethes, jene Zeit, die ihn so grundlegend verändern, ja befreien sollte, nur in ihren Folgewirkungen auf den nach Weimar zurückgekehrten, den nachitalienischen Goethe eine Rolle. Diesen gravierenden Auswirkungen aber geht Angelika Reimann genauestens nach, zeigt, wie sich Goethes Verhältnis zur sinnlichen Liebe und zur Natur überhaupt ebenso wie zu den Aufgaben im Staatsdienst Carl Augusts gewandelt hatte. Es interessierte sie die Frage, wie aus dem jungen Schwärmer der „Sturm und Drang”-Phase der „Realist” Goethe geworden ist. Gerade in seinem ersten Weimarer Jahrzehnt ist er ja zum pflichtbewußten Staatsmann geworden, der sich selbst abverlangt, daß sein tägliches Tun „Folge” haben, er also auf die Wirklichkeit im tätigen Sinne Einfluß nehmen solle. Sein hoher Pflichtbegriff ist eine wesentliche Größe innerhalb der Darstellung seines Lebens. Sein Eintritt ins Geheime Conseil des Herzogs bedeutet das „Verwandeln des Bilds in die Wirklichkeit”, wie Goethe es später selbst einmal nannte.

Goethe hat das kleine Herzogtum in Thüringen stets als den Ort seiner Pflicht empfunden, was sich aus seiner freundschaftlichen Bindung an den Herzog Carl August ergab; zugleich aber war es auch der Ort seiner großen Lieben, seiner tiefen Freundschaften zu Schiller, Herder, dem Maler Johann Heinrich Meyer und anderen. So ist der Titel Zwischen Pflicht und Neigung, den Angelika Reimann für ihr Buch wählt, ein genauer Ausdruck jenes Spannungsfeldes, in dem sich Goethes Existenz durchaus nicht konfliktfrei zeitlebens bewegte. Denn gerade nach der italienischen Reise weiß der Dichter nun um so fester, daß er sich nicht in Staatsämtern aufreiben darf, wenn er sich nicht als Künstler verlieren will. Weimar wurde nun, 1788, endgültig das Zentrum seines Lebens. Im Kapitel „Leben mit Christiane” korrespondiert die Darstellung von Angelika Reimann durchaus mit Sigrid Damms schönem Buch Christiane und Goethe. Eine Recherche, indem nämlich auch hier die Perspektive der Frau aufgesucht wird: Was mag Christiane an dem fast vierzigjährigen Goethe angezogen haben (und nicht immer nur die umgekehrte Fragestellung!), wie konnte sich das einfache Mädchen in die große, bald repräsentative Haushaltung am Frauenplan einbringen? Auch die behutsame, sensible Beschreibung der Verbindung des Dichters zu Charlotte von Stein gehört dazu. Es ist der intensive Blick nicht nur auf die Frauengestalten, sondern eine Blickrichtung von den Frauen her. Die „eklatante soziale Scheidewand” zwischen Christiane Vulpius und Goethe wird genau rekonstruiert und in ihren gesellschaftlichen Folgen innerhalb der Weimarer Ständegesellschaft beschrieben. Die Autorin zeigt, wie Goethe in dieser Lebensgemeinschaft und in Christianes unverbildetem Wesen ein Stück jener Unbeschwertheit bewahren kann, die ihn in Italien zu sich selbst gebracht hatte.

Zu den bedeutsamsten Kapiteln des Buches gehört „Das Bündnis mit Schiller”. Im Sommer des Jahres 1794 begann diese Arbeitsfreundschaft mit dem als gleichwertig Empfundenen, die im tiefsten Sinne des Wortes „Epoche” in Goethes Leben gemacht hat. Angelika Reimann zeigt Goethe als einen Künstler und Naturwissenschaftler, dessen Weltverständnis ganz auf praktischer Erfahrung und strenger Naturbeobachtung beruht. Der Streit und Austausch mit Schiller über ihre ästhetischen Systeme und wie beide in den 90er Jahren ihre klassische Ästhetik ausbilden, in deren Rahmen sie ihre großen Werke hervorbringen, gehört zu den spannendsten Aspekten des Buches. Die Zusammenarbeit an Schillers Zeitschrift „Die Horen”, das Balladenjahr oder die einander anspornende dramatische Arbeit als Autoren und Regisseure für das Weimarer Theater, die angestrebte Theaterreform also sind wesentliche Koordinaten dieser ertragreichen Jahre. So wird im Verlauf der 90er Jahre durch die produktive Zusammenarbeit Goethes und Schillers und die Diskussionen in ihren Freundeskreisen mit den Brüdern Humboldt und Schlegel sowie den Jenaer Frühromantikern der Ruf der Doppelstadt Weimar-Jena endgültig begründet. Gerade in diesen Abschnitten gelingt es der Autorin, auch die schwierigen theoretischen Programmdebatten lebendig und wirklichkeitsnah zu veranschaulichen. Die breite Materialbasis, über die Angelika Reimann souverän verfügt, durch die sie Hunderte von Originalquellen für ihren Text fruchtbar machen konnte, weist sie als exzellente Kennerin Goethes und seines Zeitalters aus. Daß Goethe, nach dem Tod so vieler ihm nahestehender Menschen, selbst im hohen Alter seine ungebrochene Produktivität bewahren und den zweiten Teil der „Faust”-Dichtung vollenden kann, ist eine tatsächlich staunenswerte, eine riesige schöpferische Leistung, deren Nachvollzug dem Buch zum Ende hin noch einmal einen Höhepunkt der Darstellung beschert. Hier spielt die frühkapitalistische Entwicklung des beginnenden 19.Jahrhunderts, über die sich Goethe mit wachem Interesse informierte, eine wichtige Rolle. Angelika Reimann hat gezeigt, wie Goethe ein Leben lang seine Wirklichkeitserfahrungen, die er in Weimar in der praktischen Tätigkeit für den Herzog Carl August gesammelt hat, in seiner Dichtung umgesetzt hat. Ein Werk, das er als 20jähriger konzipiert und im 82. Lebensjahr zu Ende gebracht hat, ist mehr als ein dichterischer Nachlaß, es ist unser nationales Kulturerbe.

Ganz anders nun das „Goethe”-Buch von Hans Mayer, dem Altmeister der Germanistik und Geisteswissenschaft unseres Landes. Den Plan zu einem resümierenden Goethe-Buch, das Mayers Beiträge einer lebenslangen Beschäftigung mit dem Dichter im Jahr seines 250. Geburtstages versammeln sollte, hat er gemeinsam mit Inge Jens realisiert. Von seiner 1949 gehaltenen „Rede vor jungen Menschen” bis zum abschließenden Text „Goethe. Tübingen 1999” wird ein weiter Bogen geschlagen. Hans Mayer hat das „Phänomen Goethe” in seiner ganzen Bedeutung für Literatur und Geistesleben der Nation bis in unsere Zeit analysiert. In allen seinen Facetten wird es ihm zum Thema. Die vorhandenen Goethe-Aufsätze werden in fünf Abschnitte gegliedert, etwa: II. „Goethe. Ein Versuch über den Erfolg”, oder: III. „Anmerkungen zum Werk”, worin sich vor allem Mayers bedeutende Arbeiten zum Faust-Thema finden. Inge Jens, die sensible Mitarbeiterin, sammelt und sichtet die Texte neu, schlägt vor und bearbeitet zurückhaltend. Beispielsweise bei den Pariser Vorlesungen, die in Form von Mitschriften erhalten sind, macht Inge Jens Vorschläge zu Verdeutlichungen, liest dem heute Zweiundneunzigjährigen aus den Manuskripten vor. Zuweilen sagt er zu seiner Herausgeberin: „Habe ich das wirklich geschrieben? - Nun, schlecht ist es nicht, also lassen wir's.” Er selbst hat die Reihenfolge der Beiträge festgelegt.

Dann fügte er 1999 doch noch Neues hinzu: Er schrieb ein Vorwort zu den Pariser Vorlesungen am „Collège de France” von 1974 und schließlich, um den Schluß mit dem Anfang zu verknüpfen, einen Epilog: „Tübingen 1999”. Dieser Text ist also ein für den vorliegenden Band neuentstandener Beitrag, der Überlegungen darüber zusammenträgt, was wir heute wirklich über Goethe wissen. Seiner Überzeugung nach bleiben Wert und Nutzbarkeit des in der Geschichte Gedachten und Geschaffenen immer ein Gegenwartsproblem, zu dem sich jede Epoche neu zu verhalten habe. „Goethe bleibt - damals so gut wie heute - Zeitgenosse.” Wenn der Band mit diesem programmatischen Satz endet, dann sollten wir ihn zugleich als Vermächtnis Hans Mayers selbst begreifen, die Kunst unseres nationalen Erbes offen anzunehmen. So, wie viele Maximen des Dichters Hans Mayer ein Leben lang begleitet haben, so hat er in seinen wissenschaftlichen Beiträgen nie aufgehört, sich von Goethes Werk herausgefordert zu fühlen. Seine anregenden Goethe-Aufsätze aus vielen Jahrzehnten sind in diesem Kontext auch als eine Art geistiger Autobiographie des Schreibenden zu verstehen.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 01/00 © Edition Luisenstadt, 2000
www.luise-berlin.de

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