Rezension von Volker Strebel



Meilenstein einer Dokumentation

Petr Pithart/Petr Príhoda: Die abgeschobene Geschichte
Aus dem Tschechischen von Otfried Pustejovsky und Gudrun Heisig. 
Kultur- und Bildungswerk der Ackermann-Gemeinde, München 1999, 412 S.


Der Titel des vorliegenden Bandes spielt auf die tschechischen Schwierigkeiten im Umgang mit der Benennung der Vertreibung an. „Abschub” stellt sprachpolitisch das Pendant zur DDR-Regelung der „Umsiedler” dar. Bereits über Monate zieht sich über die Leserbriefseite der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung” eine Polemik, die deutsch-tschechische Thematik betreffend, genauer, die Bewertung der Aussiedlung von über 3 Millionen Deutschen aus den Ländern der ehemaligen Tschechoslowakei. Es ist eine heikle Diskussion, in der man sich schnell verheddern kann. Über vier Jahrzehnte monolithischer Herrschaft einer stalinistischen Diktatur verhinderte in der Tschechoslowakei jegliche Diskussion auf einer breiten gesellschaftlichen Ebene, und als das Eis ausgerechnet in einem Winter, an der Wende 1989/1990, überraschend zum Schmelzen kam, wurde eine Vergangenheit wieder zum Leben erweckt, die man nicht nur in Böhmen längst tot gewähnt hatte.

Auch in der Bundesrepublik Deutschland war man mehr und mehr geneigt, um des Friedens willen - und das kann nicht von vornherein verwerflich sein - auf die lästigen Stimmen der Mahner zu verzichten, zumal in den Vertriebenenverbänden zuweilen auch schrille Töne für Verwirrung sorgten.

Die Erkenntnis, daß das Gedächtnis der Geschichte nicht auszulöschen ist, setzt sich allgemein nur zögernd durch. Ein unseliges Verfahren ist, bei Deutschen wie Tschechen, schnell bei der Hand: die gegenseitige Aufrechnung! Es soll hier nicht einer geschichtlichen Betrachtung das Wort geredet werden, die sich aus Zusammenhängen zu entziehen trachtet. Ein Für und Wider findet sich allemal, gerade bei der Tradition eines über tausendjährigen Neben-, Gegen- und Miteinanders, wie es in der deutsch-tschechischen „Konfliktgemeinschaft” (Jan Kren) der Fall ist. Auch ein modischer Relativismus der Gegensätze verfehlt die Wirklichkeit alles Geschehenen, das dennoch nicht geleugnet werden kann.

Das vorliegende „politisch-historische Lesebuch” stellt zum erstenmal einen repräsentativen Querschnitt der Meinungsbildung im Nachbarland vor. Stellungnahmen aus der tschechischen Presse dokumentieren den Diskussionsstand im Tschechien der 90er Jahre. Dabei reicht die Skala der Stimmen von Leserbriefen bis zu Voten bekannter Persönlichkeiten aus Politik und Kultur. Die Bandbreite reicht von Aussagen des ehemaligen Vorsitzenden der KPTsch Ladislav Adamec in einem Zeitungsbeitrag „Für den Abschub entschuldigen? Nein!” bis zu selbstkritischen Stimmen, die sich sehr wohl des vollzogenen Unrechts von Tschechen an Deutschen bewußt sind. „Als ich irgendwann einmal in der ersten Hälfte der achtziger Jahre mit Entsetzen festgestellt habe, daß innerhalb von zwei Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg durch tschechische Hände ganz regulär eine gleiche Menge Deutscher umkam wie Tschechen während des Krieges, erschauerte ich. (...) Menschen, die sagen, daß sich die Deutschen nie entschuldigt hätten, sagen ganz einfach nicht die Wahrheit. Ich selbst habe gehört, wie sie sich bewegt entschuldigt haben, wann auch immer ich mich entschuldigte. Aber für einen Menschen, der sich der absoluten Norm seiner eigenen Lügengebäude nicht bewußt wird, gilt eine einfache Entschuldigung wenig”, so schreibt Dan Drápal in der Tageszeitung „Lidové noviny” vom 12. 8. 1994. Die Fülle dieser im wahrsten Sinne des Wortes aufregenden Beiträge und Stimmungen lassen dieses Lesebuch zu einer spannungsvollen Lektüre geraten. Und der deutsche Leser nimmt keinen Schaden daran, wenn er Einblick auch in ungerecht urteilendes Denken tschechischer Zeitgenossen erhält. Historische Stationen wie die sudetendeutsche Ablehnung der ersten tschechoslowakischen Republik und den Verrat an dieser wenn auch unvollkommenen Republik an das diktatorische Dritte Reich werden aus tschechischer Perspektive beleuchtet.

Die Herausgeber Petr Pithart und Petr Príhoda hatten sich bereits während der kommunistischen Zeit mit diesen „weißen Flecken” ihrer Landesgeschichte befaßt. 1985 hatte Petr Príhoda in Köln unter dem Pseudonym Frantisek Jedermann den beeindruckenden Band Verlorene Geschichte mit Bildern und Texten aus dem heutigen Sudetenland vorgelegt.

Unerträglich sind jene Zeitgenossen, die oberlehrerhaft den Tschechen Vergangenheitsbewältigung verordnen und im eigenen Land mit dem Vorwurf des Nestbeschmutzers schnell bei der Hand sind. Dei Wahrheit braucht, das zeigt unsere eigene Geschichte, Zeitz und Geduld.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 01/00 © Edition Luisenstadt, 2000
www.luise-berlin.de

zurück zur vorherigen Seite