Rezension von Bernd Heimberger



Riemer als Rivale?

Werner Liersch: Goethes Doppelgänger
Die geheime Geschichte des Doktor Riemer.
Verlag Volk und Welt, Berlin 1999, 399 S.

Wer, bittschön, ist Sylvio Romano? Noch so einer aus einer Heimat-Schunkel-Star-Parade mit der Sehnsucht nach Goldenen Schallplatten? Der Name läßt kaum eine andere Schlußfolgerung zu. Die Schlußfolgerung ist ein Trugschluß. Das Pseudonym Sylvio Romano steckte sich ein Altphilologe an den Hut, der auch als Dichter glänzen wollte. Begraben wurde der Ehrgeiz in den Vorweihnachtstagen des Jahres 1845 in Weimar. Über vier Jahrzehnte war er in der Residenzstadt zu Hause. Auch für ihn war Weimar zum Hort seines Lebens geworden. Sein Biograph, Werner Liersch, der keine Riemer-Biographie geschrieben hat, sagt: „Weimars Dichter war Riemer.” Weimars Dichter konnte der Mann erst werden, nachdem der Dichter aller Dichter in Weimar hienieden war. Riemers Rivale? Das deutet ein Drama an. Ganz so dramatisch war die Beziehung GOETHE-Riemer nicht. Die nicht undramatische Biographie der Beziehung schildert Liersch in seinem Buch Goethes Doppelgänger, das „Die geheime Geschichte des Doktor Riemer” verspricht. Liersch hält mehr, als der unnötige Untertitel erwarten läßt. Liersch ist ein solider, also sorgfältiger Rechercheur, Rekonstrukteur und Autor. Er gräbt keine Geheimnisse aus und betreibt schon gar keine Grabschändung. Ungestraft hätte auch er sein Buch eine Recherche nennen können, wie das Sigrid Damm für ihre Arbeit Christiane und Goethe tat.

Goethes Doppelgänger ist die Rekonstruktion der Lebens- und Wirkungsjahre des Friedrich Wilhelm Riemer im Thüringischen. Seine Weimar-Zeit beginnt 1803. Goethe räumte Riemer die Mansarde in seinem Hause am Frauenplan ein und erwartete von dem Ein-Wohner, daß er sich als Lehrer seines Sohnes bewährt. Besser konnte es für den Geschlagenen gar nicht kommen, der gerade vor die Tür des römischen Haushalts des Wilhelm von Humboldt gesetzt worden war. Das „quälende Rätsel des Eros” hatte den Endzwanziger getrieben, der Hausherrin Avancen zu machen. Weimar wirkt Wunder auf den von den „Furien des Eros” Gehetzten. Bald ist er ein Gesitteter, der seine „Existenz nach den Inhalten der Dichtung” ausrichtet. In der Atmosphäre des Goethe-Hauses gedeiht Riemer. Der Lehrer des Sohnes wird der Sekretär des Vaters, wird zum Stellvertreter des goethischen Geistes. Er liefert dem Meister manche Zeile und beherrscht perfekt dessen Namenszug. „Riemer traut sich GOETHE zu. Er hat ihn lange genug geübt”, urteilt Liersch, als der Gymnasialprofessor Riemer die Nachfolge Goethes in der Intendanz des weimarschen Theaters anstrebt. Riemer riskiert einiges, denn er ist mehr als der „Famulus des großen Mannes”, als den ihn Humboldt sieht.

Goethe und Riemer sind Quellen, die einander inspirieren. Sie sind sinnliche Männer, die reale Sinnlichkeit erst spät erleben. Sie sind Opportunisten und in dieser Haltung die komplettesten Doppelgänger. Die opportunistische Grundhaltung gestattet ihnen Nähe und zwingt zugleich zur Distanz. Goethe hat einen Pakt mit Riemer geschlossen, Riemer mit Goethe. Die Arbeitsbeziehung ist dauerhafter, wirklicher und wahrhaftiger als jede andere in Goethes Leben. Das „Geheimnis” ist, wenn's denn ein Geheimnis ist, Riemer war der eigentliche Eckermann. - Das hat wohl noch niemand so laut, nachdrücklich, beweisführend gesagt wie Werner Liersch. - Gemeinsam war den Herrn, daß sie es meisterlich verstanden, den Schein zu leben, wenn das Sein nicht gelebt werden konnte. Nachdem Goethe „seinen Riemer” am Neujahrstag 1814 umarmt, schreibt der derart Auf- und Angenommene am 8. Januar ins Tagebuch: „Er ist doch der einzige, durch den ich mich geschmeichelt fühle, selbst wenn er mich benutzt. Denn die anderen, unfähig mich zu schätzen und zu beurteilen, benutzen mich nicht mal ...” Wenn auch nicht immer einvernehmlich, war es doch ein einverständliches gegenseitiges Benutzen. Die Begegnung mit Riemer hat Goethe in nichts geringer gemacht. Die Beziehung zu Goethe hat aus Friedrich Wilhelm Riemer „den Riemer” gemacht. Der hätte solche spitzen, eindeutigen und doppelbödigen Fragen pariert, wie sie Liersch gern stellt: „Wer kann's aushalten, sein einziges Leben sei kein Leben gewesen?” Riemers Leben war kein Goethe-Leben. Es war nicht mal ein Leben in Goethe-Gewändern. Im Geiste Goethes war es Riemers Leben mit Goethe. Die spät gewonnene Familie, die das private Glück des Gehetzten war, stellte das familiäre „Glück” im Hause Goethe in den Schatten. „Goethes Doppelgänger” war nicht das andere, das mephistophelische Ich. War auch kein Gegenspieler.

Riemer bekommt in dem Buch reichlich Redezeit. Der Riemer-O-Ton ist die Substanz, obwohl viel Substantielles der ergiebigen Tagebücher verloren ist. Authentische Zeit-Geschichte ist in Riemers Texten und in den Zitaten seiner Zeitgenossen. Die Gegenwarts-Sicht garantiert Werner Liersch, der Arrangeur und Autor fremder und eigener Texte. Die Zitate beschädigen Liersch als Autor nicht. Er beschädigt als Autor die Zitate nicht. Der Autor braucht keine Floskeln, um eines mit dem anderen zu verknüpfen, um sichere Übergänge zu gewährleisten. Mit seinem Sinn fürs Hintersinnige und das Heitere im Hintersinnigen sichert er die Einheitlichkeit sämtlicher Textteile. Viele Töne machen eine Komposition. Der Blick zurück in die Vergangenheit ist für den Verfasser auch eine Chance, anzügliche Zeitbezüge herzustellen, die er in unterhaltsamen Aphorismen bündelt. Liersch langweilt nie. Selbst wenn er sich wiederholt und wir uns nun auf immer merken werden, daß Goethe am liebsten „in der Stube” überwinterte. Werner Liersch ist ein Solist, wie Sigrid Damm eine Solistin ist. Goethes Doppelgänger und Christiane und Goethe stimmen ein Duett an, wie es gelungener im Jubiläums-Jahr des Meisters nicht zu hören war. Soviel Realität, rein und klar, ist selten!


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 01/00 © Edition Luisenstadt, 2000
www.luise-berlin.de

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