Rezension von Kurt Wernicke



cover  

Eine ziemlich deprimierende Lektüre

 

Jean-Pierre Liégeois:
Die schulische Betreuung ethnischer Minderheiten
Das Beispiel der Sinti und Roma.
Mit einem Vorwort von Domenico Lenarduzzi.
Aus dem Französischen von Marion Papenbrok-Schramm.

Centre de recherches tsiganes, Edition Parabolis, Berlin 1999, 332 S.

 


Dieses Buch zum Thema des pädagogischen Engagements etablierter nationaler Gesellschaften im Hinblick auf die innerhalb dieser Gesellschaften lebenden Nicht-Seßhaften legt man mit einem deprimierenden Gefühl aus der Hand - es gibt in vielerlei Hinsicht so gar keinen Anlaß zu Optimismus.

Zunächst einmal beschleicht den Leser ein ungutes Gefühl, wenn ihm 1999 ein Bericht in Buchform zugänglich gemacht wird, der 1984/85 erarbeitet wurde und 1986 im Europarat für so viel Aufsehen sorgte, daß er - auch im Europarat mahlten die Mühlen langsam, so wie jetzt bei seiner Nachfolgerin, der Europäischen Kommission - drei Jahre später zu einer Entschließung der Bildungsminister der damaligen Europäischen Gemeinschaft führte, die Maßnahmen zur Veränderung der festgestellten Situation fixierte. Man sollte zehn Jahre danach erwarten dürfen, eine Studie über die daraufhin erfolgten Änderungen lesen zu können. Aber mitnichten - der Leser erfährt Ergebnisse eines vergleichenden Überblicks, der zu einer Zeit erarbeitet wurde, als gerade erst der EG-Beitritt Spaniens und Portugals bevorstand, so daß selbst der Einblick in die zum Untersuchungsgegenstand gemachten Verhältnisse nicht einmal alle Mitglieder umfaßt, die der EG (heute: EU) zum Zeitpunkt der Vorlage der Studie angehörten. Die Publikation ist als elfter in einer jetzt 14 Titel umfassenden Reihe „Interface” erschienen, die das von Professor Liégeois geleitete Centre de recherches tsiganes an der Pariser Descartes-Universität herausgibt. Auf Englisch und Französisch lag sie bereits früher vor. Da die Verbreitung einiger der Titel in Mittel- und Osteuropa finanziell von der EU-Kommission unterstützt wird, schien es offenbar an der Zeit, diese nicht mehr taufrische Studie nun auch auf Deutsch in die Bibliotheken gelangen zu lassen - bei den unzähligen Projekten, die die EU auf dem Bildungssektor fördert, fallen die speziell hierfür verwandten Fördergelder sicherlich kaum ins Gewicht.

Zweitens sind im Jahre 1999 die Erfahrungen mit der Einbindung bzw. Nicht-Einbindung der Sinti und Roma (wie sie nun in Deutschland genannt werden - in anderen europäischen Ländern werden sie zumeist noch mit dem Namen belegt, den man auch im 19. Jh. schon kannte) im europäischen Kontext nicht mehr denkbar ohne die vergleichende Problematik des Umgangs mit gerade dieser ethnischen Minderheit zwischen Ost- und Westeuropa. Liégeois' Bericht, den er als seit 1967 ausgewiesener Experte mit der Hilfe ihm zuarbeitender Fachkräfte in den damals zehn EG-Mitgliedsstaaten erarbeitete, gibt die Situation in nicht einmal der Hälfte der (damaligen) europäischen Staaten wieder und spart die gänzlich anders gearteten Ansätze zur pädagogischen Annäherung an die tsiganes in den osteuropäischen Ländern aus. Das ist nicht nur schade, weil dort ein anderer Erfahrungsschatz in der - wenn auch höchst brüchigen - Koexistenz mit dieser Minderheit vorliegt und die nach 1945 dort herrschende autoritäre Gesellschaftsstruktur ein ganz anderes Experimentierfeld für die Einbettung minorativer Ethnien abgab als das im demokratisch verfaßten Westeuropa anzutreffende; das ist auch zu bedauern, weil man so - abseits der modischen Verteufelungen, die auch in sich seriös gebenden Publikationen angesichts des Mainstreams bei der Beschäftigung mit dem Osteuropa des Zeitraums 1945 bis 1990 angesagt sind - nicht erfährt, wie denn der Spannungsbogen zwischen Minderheitenschutz und Minderheitenintegration dort auszufüllen versucht wurde. Sollte es bei nüchterner Betrachtung und im Rahmen einer wissenschaftlichen Expertise nicht an der Zeit sein, nach osteuropäischen Erfahrungen Ausschau zu halten? (Im vorliegenden taucht ein einziges Mal ein widerwilliger Seitenblick auf das damals realsozialistische Ungarn auf...)

Zum dritten wirkt zutiefst deprimierend, was man in der Studie über die reale Situation der tsiganes in den untersuchten Ländern erfährt. Was hat es doch in allen möglichen Gremien seit 1945 für feierlich deklarierte Erklärungen über unveräußerliche Menschenrechte gegeben, wie oft sind diese selbst zu einklagbaren Fixpunkten für den Umgang miteinander - von oben nach unten ebenso wie mit dem Nachbarn von links und rechts - kodifiziert worden! Und hier erfährt man nun, daß in demokratisch verfaßten bürgerlichen Gesellschaften alle diese Festlegungen nichts gelten, wenn es auf einen verständnisvollen Umgang mit einer besonders verletzlichen ethnischen Minderheit ankommt. (Gerade läuft in amerikanischen Kinos mit beträchtlichem Erfolg „American Gipsy”, der ein authentisches Schicksal in den USA zum Gegenstand hat und beweist, daß es auch dort nicht ein Quentchen anders aussieht ...) Da hilft auch nicht das übliche Verweisen auf Gleichheit vor dem Gesetz, denn die Diskriminierung der tsiganes (oftmals gar nicht aus vorgefaßter böser Absicht) ist derart subtil, daß sie mit Mitteln des Rechts kaum zu fassen ist. Das ganze Buch stellt eigentlich nichts weiter als die Aneinanderreihung von Belegen für diese allgegenwärtige Diskriminierung dar, die im Normalfall noch immer - wie schon vor Hunderten von Jahren - aus der behördlich praktizierten Gruppenhaftung für die Normverstöße von Individuen resultiert. Gerade erst hat uns die tschechische Stadt Ustí nad Labem (Aussig) diese Vorgehensweise, europaweit beachtet(?), vorgeführt.

Das Problem der schulischen Betreuung sieht Liégeois wohl zu Recht als das Grundproblem im staatlichen und gesellschaftlichen Umgang mit den Sinti und Roma an, weil sich der Teufelskreis von mangelnder Bildung (selbst auf niedrigem Niveau) und daraus resultierender Ausgrenzung aus der seßhaften Bevölkerung immer wieder schließt. Infolge mangelnden Bildungsniveaus kann der einzelne tsigano den mit ihm in Kontakt kommenden „Anderen” sein eigenes Herkommen und seine Einbettung in einen seit Jahrhunderten überkommenen eigenen Kulturkreis nicht verständlich machen. Das jeweilige, einander fremde Ausleben nach den Ritualen des eigenen - natürlich vom sicheren Boden der Tradition aus als „normal” und „regelrecht” empfundenen - Kulturkreises schafft ständig neue Mißverständnisse und nährt tief verwurzelte Vorurteile. Das betrifft übrigens keineswegs nur die Staatsvölker, sondern ebenso die tsiganes. Im Bericht werden viele Beispiele angeführt, die belegen, wie gutwillige und motivierte Lehrer zumeist vergeblich ihre normativen Vorstellungen von Schulunterricht bei tsigano-Kindern durchzusetzen versuchten. Die wenigen Sinti und Roma, die mit sehr wahrscheinlich übermächtiger Anspannung den Sprung in die Bildung schaffen, sind dann nicht selten durch das Ergreifen der Chance zu einem „richtigen” Beruf ihrem eigenen Kulturkreis entfremdet.

Und das ist schließlich das Deprimierendste, was nach dem Studium des Reports beim Leser hängenbleibt: Auch die Studie weiß keinen Ausweg aus dem furchtbaren Dilemma, dem die tsiganes ausgesetzt sind - dem Dilemma zwischen den Zwängen eines immer erbarmungsloser auf Leistungsdruck setzenden Turbo-Kapitalismus mit seinen Globalisierungstendenzen und einer Lebensweise, die sich meß- und lokalisierbarem Leistungsdruck grundsätzlich verweigert. Schon in der Entstehungszeit des Liégeois-Berichts schwanden in den untersuchten Ländern die Aussichten der tsiganes, ihre traditionelle Einkommensquelle im Reparaturhandwerk behalten zu können. In der Wegwerfgesellschaft werden eben keine Kessel mehr geflickt! Zwar kommt die nicht-seßhafte Lebensweise dem angesichts der Globalisierung propagierten - und sich tendenziös ja bereits abzeichnenden - Flexibilisierungszwang entgegen und könnte Sinti und Roma einen bis dato nicht erfahrenen Modernisierungsvorteil verschaffen; aber die digitale Phase der technisch-wissenschaftlichen Revolution setzt derart viele beruflich ausgebildete Arbeitskräfte frei, die notgedrungen in Billigjobs drängen, aber ihre angelernte Arbeitsdisziplin mitbringen, daß auch dem Eindringen der Sinti und Roma in die Billigjobs immer engere Grenzen gesetzt werden. Der hohe Stellenwert von Familie/Sippe und deren Zusammenhalt bei den tsiganes steht in immer krasserem Gegensatz zu der Auflösung der christlichen Familie in den Industriestaaten. Dieser soziale Zusammenhalt kann noch über längere Zeit als Ausgleich zu dem weiteren Absinken auf der sozialen Stufenleiter wirksam sein und einiges an sozialen Defiziten ausgleichen - wie er es schon unter den früheren Verhältnissen oftmals unverhüllter Repression getan hat. Wie aber sollen die tsiganes ihren eigenständigen Kulturkreis bewahren können, wo der gleichmacherische Hobel der Globalisierung selbst nationale Werte verschwinden läßt?

Wenn schon nicht deprimiert, so doch immerhin recht skeptisch muß man das Kapitel „Bilanz und Empfehlungen” zur Kenntnis nehmen, wo in exakt einhundert Thesen der festgestellte Zustand subsummiert wird und zu ergreifende Maßnahmen ausführlich beschrieben werden. Der oben erwähnte Beschluß des Rates der EG-Bildungsminister vom 22. Mai 1989 „zur schulischen Betreuung von Kindern der Sinti und Roma und Fahrenden” verarbeitet die Empfehlungen des Liégeois-Teams zu beschlossenen Maßnahmen auf der Ebene der Gemeinschaft wie auch der einzelnen Mitgliedsstaaten. Der Beschluß endet mit der Festlegung: „Die Kommission unterbreitet dem Rat und dem Europäischen Parlament sowie dem Ausschuß für Bildungsfragen bis zum 31. Dezember 1993 einen Bericht über die Durchführung der in dieser Entschließung vorgesehenen Massnahmen.” Die nun 1999 publizierte Dokumentation macht sich nicht einmal die Mühe, dem Leser wenigstens noch diesen Bericht mitzuteilen.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 01/00 © Edition Luisenstadt, 2000
www.luise-berlin.de

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