Rezension von Walter Unze


Und die Moral von der Geschicht' ...?

Gabriel Jackson:
Zivilisation und Barbarei
Europa im 20. Jahrhundert.
Insel Verlag, Frankfurt/M. 1999, 560 S.

Unter den vielen Büchern, die jetzt über das ausgehende 20. Jahrhundert geschrieben werden, markiert dieses sogleich eine wesentliche Beschränkung: Es geht um Europa. Sofort stellt sich einem die Frage, ob das denn überhaupt geht, da diese Zeitetappe von vielen als das „amerikanische Jahrhundert” definiert wird und der entscheidende Einfluß der USA auf unsere Zeit wohl unumstritten ist.

Aber der amerikanische Historiker Jackson (*1921), der bis 1983 in San Diego europäische Geschichte lehrte und heute in Spanien lebt, geht in seiner Einschränkung noch weiter. Er will sich im vorliegenden Buch „mehr mit moralischen, intellektuellen und künstlerischen Hinterlassenschaften als mit wirtschaftlicher und politischer Macht” beschäftigen. Demzufolge sind von den 15 Kapiteln immerhin vier solchen Komplexen gewidmet wie der Entwicklung der Wissenschaften, der Kunst und des Zeitgeistes.

Der Autor ist sich der Problematik seines Herangehens bewußt. Doch man gewinnt den Eindruck, daß er sich letztlich doch nicht eindeutig entscheiden konnte zwischen einer „moralischen Untersuchung” und einer historischen Darstellung Europas im 20. Jahrhundert. Denn wenn er wirklich Ernst gemacht hätte mit seinen eingangs gestellten Fragen nach den „Ursachen der Bösartigkeit Stalins und Hitlers”, des „schöpferischen Reichtums Einsteins und Picassos” oder der „moralischen Ernsthaftigkeit” eines Bertrand Russell und Boris Pasternak, dann hätten Konzeption und Inhalt des Buches ganz anders aussehen müssen. So aber gerät alles ein wenig zwitterhaft: Man wird auf der einen Seite über den Ersten Weltkrieg informiert, erfährt auf der anderen Seite viel über die Bemühungen eines Max Planck und Albert Einstein bei der Entwicklung der modernen Physik; nachdem man in mehreren Kapiteln Darstellungen des Faschismus, des Zweiten Weltkrieges, des „Sowjetimperiums” und des Sozialstaates in Europa nach 1945 gelesen hat, wird man mit dem Versuch des Autors konfrontiert, einen Zeitgeist der Jahre von 1940 bis 1990 zu diagnostizieren. Dadurch steht vieles neben- und nacheinander, was für ein tieferes Verständnis ineinander, miteinander verbunden gehört. Vielleicht liegt darin auch die Ursache, warum es für den Leser nie ganz einsichtig wird, nach welchen Kriterien die „moralischen, intellektuellen und künstlerischen Hinterlassenschaften” ausgewählt worden sind. Bei den geschichtlichen Prozessen liegt der reale Ablauf der Zeit zugrunde, was man nachvollziehen kann. Und man ist auch nicht böse, wenn über manche weniger zentrale Entwicklung mehr geschrieben wird als vielleicht erforderlich. Hier schlägt das Spezialwissen des Autors - so bei der jüngeren spanischen Geschichte - deutlich durch. Doch ob Martin Heidegger wirklich eine so zentrale Rolle im europäischen Zeitgeist gespielt hat, wie hier betont wird, und ob man von Ludwig Wittgenstein unbedingt seine „Geständnisse” gegenüber seiner Russischlehrerin erfahren muß, um den Zeitgeist zu verstehen, das bleiben offene Fragen. Vielleicht liegt ja eine Antwort in der Position des Autors, daß er weniger am Inhalt der einzelnen Theorien und Lehren des jeweiligen Denkers interessiert ist „als an der Symptomatik seiner bedeutenden Rolle” - was immer das auch bedeuten mag.

Jackson mißt historischen Persönlichkeiten und deren Charaktereigenschaften einen außerordentlich hohen Stellenwert bei. So ist für ihn der Zweite Weltkrieg „in jeder Hinsicht der Krieg Hitlers”, und mehrfach geht er von einer „einzigartigen Vernichtungswut” bei Hitler und Stalin aus. Auch in der Einschätzung des Wirkens von Michail Gorbatschow wird solch ein Herangehen deutlich. In den Aussagen zur Sowjetunion und den Ländern des „Sowjetimperiums” zeigen sich im Prinzipiellen wie in Details einige Schwächen. So geht Jackson davon aus, daß die politischen Führungen nie die Richtigkeit ihrer Interpretation des Historischen Materialismus in Frage gestellt hätten, ja er erhebt die Fehler „aufgrund einer dogmatischen Ideologie” zu einer entscheidenden Ursache des Zusammenbruchs des ganzen Systems. Das widerspricht dem tatsächlichen Stellenwert der marxistischen Theorie in der praktischen Politik der politischen Führungen. In entscheidenden Fragen wurde eben nicht auf einem theoretischen Konzept beharrt, sondern die „Theorie” wurde bedingungslos der pragmatischen Politik angepaßt. Das Kapitel über den Kalten Krieg liest sich über weite Passagen, als bestünde die Geschichte der DDR und der osteuropäischen Länder aus einer einzigen Kette von Widerstand. Das normale Leben in den Jahrzehnten von 1945 bis 1990 in diesen Ländern spielt keine Rolle.

Doch nicht nur in diesem Bereich, in dem seit Beginn der neunziger Jahre ja viele neue Legenden entstanden sind, stößt man auf Fragwürdiges. So spricht der Autor z. B. von einem „linken idealistischen Flügel” der NSDAP; an anderer Stelle erhebt er die strategische Bombardierung der deutschen Städte im Zweiten Weltkrieg zu einem der „wichtigsten Aspekte des Krieges im Westen”. Dabei hat der Bericht einer Untersuchungskommission (United States Strategic Bombing Survey), die bereits im Herbst 1944 ihre Arbeit aufgenommen hatte, nachgewiesen, daß diese strategischen Bombardements keinen entscheidenden Einfluß auf Sieg oder Niederlage Deutschlands genommen hatten. Einer der Mitglieder dieser Kommission, John Kenneth Galbraith, sprach im Zusammenhang von der Überschätzung der Bombardements sogar von der wohl größten Fehlkalkulation des Krieges überhaupt.

Ganz nebenbei: Vielleicht wären die Militärs der NATO auch anders an ihre Strategie der Luftangriffe auf Jugoslawien herangegangen, wenn sie den damals veröffentlichten Bericht „The Effects of Strategic Bombing on the German War Economy” vorher gelesen hätten.

Überrascht wird man durch das Kapitel „Exkurs über große Romanliteratur” fast am Ende des Buches. Bleibt einem schon der konzeptionelle Platz unklar, so wird das durch die Auswahl noch verstärkt. Für Jackson sind die hier nennenswerten Autoren und Titel: Thomas Mann (Der Zauberberg), Boris Pasternak (Doktor Schiwago), Louis-Ferdinand Celine (Reise ans Ende der Nacht), Alexander Solschenizyn (Krebsstation), Iris Murdoch (The Philosopher's Pupil).

Das abschließende Urteil, das der Autor über das Europa von heute fällt, klingt pessimistisch. Er bündelt eine Fülle negativer Aspekte und hält sie für Symptome einer Gesellschaft, „die gekennzeichnet ist durch materiellen Wohlstand, eine weit fortgeschrittene Technik und das Fehlen jeglicher allgemeinverbindlicher, großherziger, positiver Ideale für jenen Teil des menschlichen Wesens, der nicht vom Brot allein lebt”. Ebendeshalb erscheint es ihm als eine der entscheidenden Fragen der Zukunft Europas, wie es gelingt, eine weltliche, menschliche Ethik zu entwickeln und zur Wirkung zu bringen.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 01/00 © Edition Luisenstadt, 2000
www.luise-berlin.de

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