Rezension von Dorothea Körner



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Kindheit in Nordjütland

 

Per Petterson:
Sehnsucht nach Sibirien
Aus dem Norwegischen von Ina Kronenberger.

Carl Hanser, München 1999, 237 S.

 


Per Petterson ist eine Entdeckung. Sein 1996 in Oslo erschienener Roman Sehnsucht nach Sibirien, der hier in deutscher Übersetzung vorliegt, wurde in Norwegen hoch gelobt und 1997 für den Nordic Council's Literature Prize nominiert. Der 1952 geborene Autor - Bibliothekar, Buchhändler und Übersetzer - schlüpft in die Rolle einer 1926 geborenen Dänin, die als Frau Anfang Sechzig von ihrer Kindheit und Jugend in Nordjütland, der Besetzung ihrer dänischen Heimat durch die Deutschen und den ersten Nachkriegsjahren, die sie in Kopenhagen, Stockholm und Oslo verbringt, erzählt. Der Roman endet: „Poker lief am Wasser entlang mit einem Möwenflügel in der Schnauze, und ich war damals so jung, und ich erinnere mich, daß ich dachte: Ich bin dreiundzwanzig, das Leben ist vorbei. Jetzt kommt nur noch der Rest.” Die fiktive Erzählerin, die übrigens keinen Namen trägt, erinnert sich an diese Jahre, weil sie Farbe, Tiefe und Leidenschaft besaßen durch die enge Verbundenheit mit ihrem drei Jahre älteren Bruder. Beide träumen von der Ferne. Während Jesper nach Marokko reisen möchte, geht die Sehnsucht seiner Schwester nach Sibirien.

Sehnsucht nach Sibirien ist ein sehr leiser Roman, der zunächst durch seine Sprache, die Beschreibung der jütischen Küstenlandschaft, der heimatlichen Kleinstadt am Meer mit Werft und Fischereihafen, den Feldern und Sandwegen, auf denen die Geschwister mit Fahrrädern oder mit Großvater auf dessen Einspänner unterwegs sind, besticht. Man glaubt, den nächtlichen Nebel oder die glasklare Luft am Morgen einzuatmen, spürt die kalten Winternächte mit klammem Bettzeug im großväterlichen Bauernhaus, die von Wasser triefenden Kleider auf der Haut oder die warmen Leiber der Kühe im Stall, an denen sich die Kinder, ihnen Geschichten erzählend, wärmen. Es prägen sich Bilder ein wie die Rettung des Bruders Jesper aus dem Brackwasser des Hafens, der Streit des Großvaters mit dem Baron in der Kneipe, die skurril-akrobatische Werbung des Vaters um die Mutter oder die letzte Rückkehr der Tochter in das trostlose Elternhaus. Die Sätze dieses Romans scheinen einfach zu sein, sie geben die Erlebniswelt eines sieben-, zwölf- oder vierzehnjährigen Mädchens wieder, meistens schwingt jedoch Hintergründiges mit, bisweilen sogar Magisches. Die Kinder spüren die Risse und Verletzungen in der Familie, auch wenn nie darüber gesprochen wird. Sie ahnen die Katastrophen voraus. Bewegend ist die Zuneigung der Tochter zu ihrem verschlossenen, oft hilflos wirkenden Vater und die kalte Distanz der dichtenden und am Klavier Choräle singenden Mutter zu diesem Kind. Ohne Jesper, den alle lieben, wird in diesem Haus selten gelacht.

Neben den Familienmitgliedern, die der Roman sehr genau zeichnet, sind es vor allem die Porträts der beiden Geschwister, die bezaubern. Die Erzählerin bewundert ihren Bruder Jesper, mit dem sie viele Geheimnisse teilt, der Nexö liest, für die spanischen Syndikalisten schwärmt und ein proletarischer Führer werden möchte. Zunehmend ist sie ihm an Kraft, Mut und körperlicher Gewandtheit gewachsen. Beim Einmarsch der Deutschen bricht Jesper in Tränen aus, weil die Dänen keinen Widerstand leisten. Er ist an den Vorbereitungen des 29. April 1943 beteiligt, als Dänemark auf die Besatzung mit Streiks und Sabotageakten antwortet, und muß schließlich vor der Gestapo nach Schweden flüchten. Nach dem Krieg verwirklicht er seinen Traum und reist nach Marokko, aber er stirbt dort. Seine Schwester, die sich in den Nachkriegsjahren mit Intelligenz und Unabhängigkeitssinn, wenn auch mit dem Gefühl einer gewissen Verlorenheit, in den skandinavischen Hauptstädten durchgeschlagen hat, verliert damit die geheime Mitte ihres Lebens. Die Familie zerbricht.

Der Roman liest sich zu Anfang nicht leicht. Die genaue Topographie mit den fremden Orts- und Straßennamen verwirrt. Oft sind die zeitlichen Ebenen der Erzählung ineinandergeschoben. Dennoch folgt man der Handlung mit zunehmender Beteiligung bis zum tragischen Schluß. Von den drei Teilen des Buches - Kindheit, Besetzung Dänemarks, Nachkriegszeit - scheinen mir die Kindheitskapitel die schönsten zu sein. Beim zweiten Lesen des Buches erkennt man auch die leitmotivische Komposition der Kapitel und kann die Sprache bewußter wahrnehmen, was nicht zuletzt für die Qualität der Übersetzung spricht.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 01/00 © Edition Luisenstadt, 2000
www.luise-berlin.de

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