Rezension von Volker Strebel



Stimmen und Stimmungen

Östlich von Eden
Von der DDR nach Deutschland 1974-1999.
Herausgegeben von OSTKREUZ Agentur der Fotografen.
Verlag Christian Brandstätter, Wien/München 1999, 207 S.

Ein Lesebuch zum Ansehen und ein Bildband zum Lesen zugleich entsteht, wenn 14 Fotografen ihre Bilder und 9 Schriftsteller, darunter Wolf Biermann, Ulrich Plenzdorf und Ingo Schulze, ihre Texte einander zuordnen. Die konventionelle Wahrnehmung wird durchbrochen, Texte und Bilder ergeben einen neuen Blick auf die Wirklichkeit. „Das ist die Wende vor meinem Fenster”, schreibt Lukas Lessing in seinem Beitrag „Das Fenster zum Hof”: „Die letzten sieben Jahre auf meinem Hof. Der winzige willkürliche Ausschnitt. Das ist mein ganz eigenes Foto von dem, was passiert ist in dieser Zeit.” Und Lukas Lessing wie auch die anderen Autoren mit und ohne Kamera fragen, was eigentlich ist passiert?

„Niedergang? Dekadenz? Auflösung? - Ja, auch. Vor allem aber: Verlust bestehender Form. Öffnung auch. Fragment. Wie dieser Text. Da ist nicht mehr der Berlin-Text zu schreiben, auch wenn das dauernd passiert. Auch wenn der immer öfter publiziert wird. Größenwahnsinnige Versuche sind das, das große Ganze zu erfassen. Diese Stadt hat keinen Text. Diese Stadt hat sehr viele Texte.” Das ist wahr, denn jedes Bild in diesem Band, der die Zeitspanne zwischen 1974 und 1999 zu erfassen versucht, hätte das Zeug zu einem eigenen Roman. Gerade der durchweg gelungene Blick auf alltägliche Vorgänge und Mechanismen provoziert eine neue Nachdenklichkeit beim Betrachter. Die Vielzahl der Fotografen, und es befinden sich namhafte Vertreter darunter wie Harald Hauswald, Harf Zimmermann, Anne Schönharting oder Sibylle Bergemann, sorgt für eine abwechslungsreiche Sicht auf das untergegangene Land DDR, die „tatsächlich schrecklich war”, wie der ungarische Schriftsteller und jetzige Präsident der Akademie der Künste in Berlin, György Konrad, in seinem exklusiven Geleitwort beginnt und hinzufügt: „Aber was für ein Fotothema!” In Farbe und in Schwarzweiß werden verschiedene Aspekte dieses deutschen Staates gezeigt, der von sich selbst einst den Anspruch eines „real existierenden Sozialismus” eingenommen hatte. Da gibt es Fotos vom grauen Alltag, schwarzweiß und grau in grau und dann Aufnahmen großangelegter Feiern.

Eindrucksvoll der feiste Betriebskampfgruppenmann mit Orden auf der Brust, den Stahlhelm eng an das speckige Kinn geschnallt. Ein Typus, der überall marschiert und unter jeder Fahne strammsteht, Hauptsache, man gehört zur sogenannten normalen Mehrheit.

Immer zwischen den Bildern der einzelnen Fotoautoren sind Texte von Schriftstellern eingeordnet, die jedoch nicht direkt auf die jeweiligen Fotos bezogen sind. Die Texte illustrieren die Bilder - von einer anderen Sicht her! Und diese gestaltete Spannung erzeugt in der Tat ein Fluidum, das Stimmung wie Stimmen jener DDR recht gut trifft.

In einem solchen Text erinnert sich Jens Sparschuh an eine Jugendweihe in der DDR: „Höhepunkt des Rituals ist die Festansprache eines verdienten Arbeiterveteranen. Am Schluß seiner Rede spricht er zu uns die - wie sich noch zeigen wird - ungeheuer prophetischen Worte: ,Ihr, liebe junge Freunde, die ihr heute hier vor mir sitzt, werdet einmal in einer anderen Gesellschaft leben!` Eine Ankündigung, die mit herzlichem Beifall begrüßt wird.” Jens Sparschuh erinnert sich, daß jeder Teilnehmer der Jugendweihe, jeder „Weihling”, ein stattliches Buch mit dem Titel Weltall Erde Mensch überreicht bekam, „einen Reiseführer in die Zukunft”. Jetzt liegt dieses Buch, „weil es nicht ins Regal paßte, auf dem Stapel der anderen überformatigen Bücher, wo es seither seinen wohlverdienten Ruhestand genießt - in trauter Nachbarschaft von ,Die schönsten Märchen aus aller Welt` und ,Das große ABC des kleinen Modelleisenbahners`”. Eigentlich eine passende Zusammenfassung für umgekrempelte gesellschaftliche Verhältnisse, befriedigte Sehnsüchte und unerfüllbare Hoffnungen. Die Ironie eines Lebensschicksals, das sich nicht hatte träumen lassen, daß sich Östlich von Eden das Paradies befindet oder, wie es im Hebräischen eigentlich heißt, die Wonne.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 01/00 © Edition Luisenstadt, 2000
www.luise-berlin.de

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