Rezension von Rainer Jahn



Ein Buch über Liebe, Hoffnung und Verrat

Stewart O'Nan: Sommer der Züge
Roman. Deutsch von Thomas Gunkel.
Rowohlt Verlag, Reinbek 1999, 480 S.

James Langer ist um die Fünfzig, Lehrer, behäbig, beleibt, familiensüchtig. Immer will er es allen recht machen, immer hat er ein schlechtes Gewissen, die zu enttäuschen, die er liebt - seine Frau Anne, seine Söhne Rennie und Jay, den Vater, die Schwester Sarah. Eigentlich ist er eine optimistische Natur, aber die Probleme wachsen ihm nun doch über den Kopf. Es begann vor zwei Jahren mit seiner Liaison mit der 16jährigen Schülerin Diane. Da mußte er Schule und Stadt wechseln. Das war vor allem ein schwerer Schlag für seine Ehe. Anne war tief getroffen, ihre Wut und Verachtung hatte die Beziehung zerstört, ihr abweisendes Kopfschmerzgesicht war eine ständige Strafe für den Schuldbewußten. Dann zog Rennie in den Krieg (er hatte gerade Dorothy geheiratet, und Nachwuchs war unterwegs), und prompt kam eine Vermißtenmeldung ins Haus, die alle mit namenloser Sorge erfüllte. Und jetzt lag James Vater im Sterben. Von der Schwester zu Hilfe gerufen, war er nun mit der Familie unterwegs, um ihm in den letzten Wochen beizustehen.

Es ist Sommer 1943, der Sommer der Züge, die pfeifend am Haus vorbeifahren. Beschrieben wird die Zeit von der Ankunft im Haus von Opa Langer im Küstenstädtchen Hampton Bays bis zur Abreise nach dem friedlichen Tod des alten Mannes. James macht sich in einer Rüstungsfabrik nützlich (es ist Krieg, und jeder packt mit an, so gut er kann), Anne hilft als Krankenschwester aus, rächt sich jedoch an ihrem Mann mit einem Verhältnis mit einem Offizier vom Army-Stützpunkt, halbherzig freilich, mit schlechtem Gewissen sozusagen. Jay, ohnehin von Ängsten und bösen Träumen gequält, leidet unter dem Zerfall der Familie. Da trifft ein Telegramm ein: Rennie lebt, wenn auch schwer verwundet. Dorothy kommt mit Baby Jennifer aus San Diego herüber. Gemeinsam erleben sie Rennies Heimkehr - durch das Kriegserlebnis verstört, ein Veteran unter Dauerschock. Der Tod des Vaters, die Rückkehr des Sohnes zwingen James und Anne, den unsicheren Waffenstillstand aufzugeben und ihr Leben neu zu ordnen. Jay erhält wieder familiäre Geborgenheit und ihre Beziehung eine neue Perspektive.

Das ist ein sensibles Buch über Liebe und Hoffnung, Einsamkeit und Verrat, Altern und Sterben, Schuld und Vergebung, Sehnsucht nach Harmonie und dissonante Eingriffe der Lebenswirklichkeit. Es ist ein Buch voller Eindrücke, Wahrnehmungen und Beschreibungen (der Fortgang der Geschichte läßt sich erst aus großem Abstand erkennen), mit Aufmerksamkeit für Geräusche und Farben und die Reflexe der Dinge in der mündlichen Rede und im Sehen. Alles ist genau und ausführlich notiert, mehr auf psychologischen Tiefgang orientiert denn auf Dramatik. Präzis wird die Situation während des Zweiten Weltkriegs im amerikanischen Hinterland wie auch an der Front gegen Japan wiedergegeben, da stört kein Hurrapatriotismus, die Kapitel über Kampfhandlungen schließen zur besten Antikriegsliteratur auf. Die Hauptfiguren changieren reich und vielfältig, da wird nichts vereinfacht, und niemand ist aus einem Guß.

Der Roman ist gedanklich tief und sprachlich brillant.

Und trotzdem. In Stewart O'Nans glänzendem Buch Die Speed Queen (Berliner LeseZeichen 7/8/1999) schien nahezu jeder Satz notwendig und unentbehrlich. Dieses Gefühl hat man diesmal nicht immer. Einige Beschreibungen sind allzu detailverliebt und behäbig. Andererseits bleiben manchmal tiefere Einblicke in menschliche Charaktere verwehrt. Die Eltern von James, von Anne, von Dorothy, die Schumans auch in San Diego - zugegeben keine Haupthandlungsträger, aber sind sie nicht ohne härtere Kontur und daher austauschbar? Ein Mann wie Martin bleibt blaß, Leidenschaft und Zärtlichkeit werden kaum Ereignis (und daß er ständig von seiner Frau Evelyn schwärmt, kann doch so wahnsinnig anziehend und aufreizend für Anne nicht sein), und wie der gesetzte, stets auf Ausgleich bedachte und kaum leichtsinnige James sich in einem Verhältnis mit einer Schülerin verlieren konnte, wird wenig vorstellbar, da hält der Autor Darstellungsbemühungen auch gar nicht für nötig. Verlockende Romanzen als Flucht aus grauem Ehealltag? Bei Beiläufigem oft zu wortreich, setzt der Autor an solchen Punkten, die die gefährdete Existenz seiner Figuren signalisieren, zu sehr auf das Unausgesprochene hinter den Worten. Und schließlich: Mehrere Male werden Animositäten und sogar Haßgefühle apostrophiert (zwischen Sarah und ihrem Vater, zwischen Dorothys Eltern und Rennie, zwischen Anne und Dorothy), aber nicht begründet. Worauf lassen sie sich zurückführen? Eine Beantwortung hätte möglicherweise die Figuren und ihr Beziehungsgeflecht noch anreichern können.

Hier sind Untiefen - bei einem Roman allerdings, der im übrigen das Erzähltalent O'Nans erneut bestätigt und seinen literarischen Rang festigen wird.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 01/00 © Edition Luisenstadt, 2000
www.luise-berlin.de

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