Rezension von Ulrich Blankenfeld



Ungeschminkt und unparfümiert

John Henry Mackay: Der Puppenjunge
Verlag rosa Winkel, Berlin 1999, 352 S.

Von wegen: Das erste Mal tut's noch weh! Es tut nicht weh. Schlimm ist es auch nicht. So was hat der Herr Pfarrer schon mit Günther gemacht. Nur gezahlt hat der Pfarrer dafür nicht. Der vom Kirchenmann verführte Knabe, so um fünfzehneinhalb, hat seinem Kuhdorf den Rücken gekehrt und ist auf Berlins strichigstem Strich gelandet. Das war die „Passage” an der Friedrichstraße. Zwischen Linden und Behrenstraße. Berlin-Kenner, die Franz Hessel und Ilja Ehrenburg genau gelesen haben, wissen Bescheid. In Ehrenburgs Memoiren gibt's die brillanteste literarische Schilderung der Passage. Steht Ehrenburg auf der obersten Stufe der Literatur, so hat John Henry Mackay (1864-1933) nicht mal festen Stand auf der ersten Stufe. Sein Roman Der Puppenjunge ist reine Trivialliteratur. Das war er, als er 1926/27 erstmals veröffentlicht und 1978 wieder ausgegraben wurde. Literarisch kann das Buch nicht besser werden. Dennoch wird das Buch immer besser. Es ist ein Relikt der Zeitgeschichte. Es funktioniert gut als zeitgeschichtliches Stückgut. Ein gewiefter Regisseur könnte aus dem Material ein passables Fernseh-Melodram machen. Der Stoff bietet alles, was sich blendend für die Inszenierung einer Story vom schweren, schönen schwulen Sein eignet. Ein sentimentaler Schinken muß es ja nicht werden. Im Gegenteil. Ein Schmarren der Sentimentalität ist Mackays „Puppenjunge” nicht. Das mit jedem erdenklichen sprachlichen Kitsch ausgestattete Buch - vom „entzückenden Liebreiz” bis zur „milden Süßigkeit”-, das zudem kein Klischee einer schnellen und kurzen schwulen Stricherkarriere ausläßt, ist das kennzeichnende Buch eines Milieus, einer Stadt, einer Zeit. Es ist auch ein Buch des Aufbegehrens und des Anklagens, ohne im Aufbegehren und Anklagen polemisch zu sein. „Die Geschichte einer namenlosen Liebe aus der Friedrichstraße”, so der Untertitel, ist von einem Engagierten geschrieben, der unter dem Pseudonym Sagitta eine siebenteilige Chronik der „namenlosen Liebe” verfaßte.

John Henry Mackay - Sagitta - kann mancher künstlerische Mangel angekreidet werden, nicht das fehlende Engagement. Obwohl der Schriftsteller mit Der Puppenjunge nicht den Roman eines Strichers, einer Szene, einer Stadt, einer Straße in die Welt setzte, ist der Roman die wohl ausführlichste, konsequenteste literarische Darstellung einer Szene, einer Stadt, einer Straße wie ihrer Umgebung. Mackay sah die Schauplätze seiner Geschichte nicht aus der Entfernung. Er kannte ihre Gestalten nicht nur aus Akten. Der Schilderer ist auch Dokumentarist. Sein Dilemma als Erzähler war es, nicht genügend Distanz zur Geschichte gewahrt zu haben. Die tragende wie tragische Geschichte des Buches ist die Liebe des 23jährigen „Mannes” Hermann zu dem „Knaben” Günther. Als Erzähler dieser Bindung und Beziehung von antiken Ausmaßen ist Mackay ein Schwärmer gewesen, der die Mann-Knaben-Liebe ehren und ihre Schönheit propagieren wollte. Die Schwärmerei ist seiner Prosa schlecht bekommen. Schwärmern aller Zeiten wird das Schwärmen guttun, zumal vieles in dem Roman nicht nach Happy-End aussieht. Nach Vorzügen gesucht, ist das der wesentlichste Vorzug: Wahrheit kommt in dem Buch ungeschminkt und unparfümiert daher. Sie bietet sich nicht billig an. Dementsprechend ist das Buch solide ausgestattet und ausgeführt. Und nicht nur was für Historiker und Homosexuelle!


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 01/00 © Edition Luisenstadt, 2000
www.luise-berlin.de

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