Rezension von Manfred Grabe



Stadtgemeinden als neue politische Kraft

Jörg Kastner: Anno 1074
Der Aufstand gegen den Kölner Erzbischof.
Bastei-Verlag Gustav H. Lübbe,
Bergisch-Gladbach 1998, 517 S.

Geschichtsliteratur hat nach wie vor Konjunktur. Historische Romane und Erzählungen üben auf viele Leser eine ähnliche Faszination aus wie vergleichsweise Kriminalromane oder die Science-fiction-Literatur. Greift der von geschichtlichen Sujets Gefesselte zum historischen Roman, so erwartet er nicht einfach nur spannende und abenteuerliche Unterhaltung, sondern will in aller Regel auch, wenn er das Buch wieder aus der Hand legt, um historisches Wissen bereichert sein und sich in seinem Interesse am geschichtlichen Geschehen bestärkt sehen. Ein solider historischer Roman verquickt gesicherte historische Fakten mit einem fiktiven, real jedoch denkbaren und realistischen, tatsächliche historische Geschehnisse nicht ignorierenden oder verbiegenden Handlungspanorama, aus dem das eigentlich Spannende und den Leser Packende erwächst. In dieser Hinsicht verdienen die im Bastei-Verlag G. Lübbe bereits seit vielen Jahren in schöner, den historisch - aber nicht nur ihn - interessierten Leser erfreuenden Regelmäßigkeit herausgegebenen Neuerscheinungen zu Themen mit historischem Hintergrund Beachtung und Hervorhebung. Darunter befinden sich auch die Werke von Jörg Kastner: Thorag oder Die Rückkehr des Germanen, Der Adler des Germanicus, Marbod oder Die Zwietracht der Germanen (zusammengefaßt unter dem Begriff „Germanen-Saga”).

Nun liegt sein jüngstes Werk Anno 1074 vor, das sich auf historische Tatsachen beruft. Thematisch behandelt es einen prägnanten Wandlungsmoment in der historischen Entwicklung der feudalen Gesellschaftsstruktur in den deutschen Ländern: das erstmals prononcierte Auftreten der neuen sozialen Schicht der Stadtbewohner, die neben die beiden Hauptklassen - Feudalherren und abhängigen Bauern - tritt und die - häufig in Schwurgemeinschaften zusammengeschlossen - nach Unabhängigkeit von ihrem Stadtherren strebte und zumeist auch eine weitgehende Selbstverwaltung der Kommunen erkämpfte. In besonderer Weise widmet sich der Roman dabei dem Aufstand gegen den Kölner Erzbischof Anno, in dem diese historischen Momente erstmals deutlich und weitergehend zum Tragen kommen.

Als bedeutsam und für die Zukunft wegweisend hatte sich die Parteinahme der Städter für den König und gegen ihre bischöflichen Stadtherren erwiesen. Die Stadtgemeinden traten erstmalig und zunehmend als politischer Faktor auf und definierten ihren Platz in den Auseinandersetzungen zwischen königlicher Zentralgewalt (insbesondere unter König Heinrich IV.) und territorialer Fürstengewalt. Während es in der Stadt Goslar 1073 bewaffnete Aktionen der Bürger mit antiköniglicher Stoßrichtung infolge der Reichspolitik Heinrichs, die diese Stadt in besonderer Weise belastete, gab, schlugen sich die Bürger Worms auf die Seite des Königs, insbesondere, indem sie ihm auf der Flucht aus Sachsen 1073 Asyl und Unterstützung boten. Heinrich dankte dies den Wormser Bürgern mit der Gewährung eines Zollprivilegs. Dieser Funke von Worms sprang auch auf die Rheinmetropole Köln über. Unter Bezug auf überlieferte Quellen jener Zeit - darunter auch jener wichtigen Annalen eines Chronisten namens Lamprecht von Hersfeld - beschreibt der Roman in prallen, detaillierten und lebensnahen Bildern, unter sorgfältiger Unterscheidung zwischen tatsächlichen historischen Persönlichkeiten und fiktiven Romanfiguren, das Heranreifen des Aufstandes und das Agieren der mit ihm auf unterschiedlichste Weise verwobenen Menschen, ohne die dahinterstehenden politischen, ökonomischen und historischen Ursachen im einzelnen zu gewichten. Der Autor läßt die historische Erzählung mit einer Entführung des damals noch jungen Heinrich IV. durch den Erzbischof Anno mit Hilfe eines dem Kaufmann Rainald Treuer gehörenden Schiffes beginnen. Mit diesem Staatsstreich machte sich Anno zum mächtigsten Manne im Reich. Dieser Rückgriff auf ein wichtiges Element der Vorgeschichte des Kölner Aufstandes bedarf der Ergänzung, daß die eigentlichen Ursachen des Kölner Aufstandes mindestens bis in das Jahr 1056 zurückreichen: Der städtische Adel hatte sich bereits einmal gegen Anno gewandt, da dieser ihm standesmäßig nicht ebenbürtig war. In den Folgejahren überwarf sich der Bischof durch seine Politik mehrfach und massiv mit dem Stadtadel, insbesondere durch die Besetzung der klösterlichen Abteien mit italienischen Reformmönchen, worin der Stadtadel einen Angriff auf seine Pfründe sah. Aufkeimenden Widerstand warf der Bischof bereits damals mit Waffengewalt nieder. Nun also, im Jahre 1074, brachen die lange schwelenden Probleme, insbesondere der Konflikt um die konsequente Durchsetzung der Herrenrechte gegen den emanzipatorischen Anspruch der Städter gegenüber dem Erzbischof Anno, in offenen Brand aus. Der Zündfunke war die Beschlagnahme eines bereits zur Handelsfahrt gerüsteten Schiffes der Kölner Kaufleute Treuer durch den Bischof Anno für die Heimreise seines Freundes Friedrich von Münster. Der im Roman ausführlich und mit allen denkbaren Details dargestellte Vorfall demonstrierte, wie die Stadtherren im Zuge der Herrschaftsintensivierung Sonderleistungen, die im Kriegsfalle und in Notzeiten eine von der Kaufmannschaft durchaus akzeptierte Notwendigkeit waren, zu ständigen Verpflichtungen erhoben und ihre Requirierungsrechte einfach auf die Beschlagnahme für beliebige Beförderungszwecke ausdehnten. Gegen solches Vorgehen protestierten die Kaufleute, die geheiligte Gewohnheiten grob verletzt sahen. Der bewaffnete Aufruhr, der im Roman plastische und drastische, zum Teil auch blutige Widerspiegelung erfährt, griff rasch um sich. Die Kölner Bürger stürmten den Sitz des Erzbischofs Anno, plünderten ihn und erschlugen einige Diener. Mit Mühe rettete sich der Erzbischof in eine Kirche und floh schließlich im Schutz der nächtlichen Dunkelheit aus der Stadt. Als dies unter den Kölner Empörern bekannt wurde, besetzten sie die Mauern der Stadt und verstärkten die Schanzen mit Bewaffneten. Gleichzeitig entsandten sie Boten zum König Heinrich IV., der sich auf einem Feldzug in Ungarn befand, um ihn zur Einnahme Kölns zu bewegen. Während des Aufstandes wurden bischöfliche Weinkeller von den Aufständischen zielgerichtet zerstört.

Der auch im Roman genannte Hintergrund besteht in der Praxis des sogenannten Bannweins, durch den herrschaftlicher Wein vorzugsweise verkauft wurde, während für anderen, auf Kölner Straßen und Plätzen gehandelten eine zusätzliche Markt- und Verkaufsabgabe zu zahlen war. Diese Verfügung bedrohte in erster Linie die reichen Kaufleute, die des Königsschutzes teilhaftig waren. Die Initiative zur Erhebung gegen den Kölner Erzbischof ging demzufolge vornehmlich von ihnen aus. Ihren Kern bildeten die leitenden Männer der Kaufmannsgilde von St. Martin, einem Kölner Vorstadtbezirk, der mit St. Brigiden außerhalb der römischen Ummauerung lag. Hier hatte sich eine auch ökonomisch starke Sondergemeinde entwickelt, in der Kaufleute dominierten, unter denen sich jedoch bereits erste konkurrenzbedingte Auseinandersetzungen abspielten; der Autor zeigt dies eindrucksvoll im Verhältnis der Kaufmannsfamilien Treuer und Wikerst. Während die Standesgenossen der durch die Beschlagnahme des Schiffes betroffenen Kaufleute noch berieten, stürmte die Menge den Bischofspalast. Dadurch entglitten diesen Kaufleuten die Handlungsfäden. Vom Sog des Aufstandes mitgerissen wurden wohl alle bürgerlichen Kreise. Auch der Stadtadel bezog Front gegen Anno wie bereits 1056, nur daß damals adlige Kräfte tonangebend waren, während diesmal die Situation genau umgekehrt war.

Die rasche Niederwerfung des Aufstandes gelang dem Erzbischof nur deshalb, weil er das umliegende Land für seine Sache mobilisieren konnte und der von den Kölnern um Beistand angerufene König Heinrich IV. weder Kräfte frei hatte noch eine Notwendigkeit sah, um einzugreifen. Bei der Mobilisierung der bäuerlichen Bevölkerung im Umland von Köln zur Rückeroberung der Stadt durch Erzbischof Anno müssen neben klerikaler Einflußnahme auch ökonomische Ursachen eine Rolle gespielt haben. Von wesentlichem Gewicht dürfte gewesen sein, daß sich die Bauern von den Kölner Kaufleuten bei Verkauf ihrer ländlichen Produkte in der Stadt übervorteilt fühlten. Die Aufständischen unterwarfen sich nahezu kampflos. Die Strafen, die der Erzbischof über die Rädelsführer verhängte, waren hart, unmenschlich und entehrend. Nach der Niederwerfung der Erhebung flohen wohlhabende Kaufleute zum König, um sein Einschreiten gegen das Wüten des Erzbischofs zu erflehen. Sie glaubten, daß sie sich nicht nur im eigenen, sondern im Interesse des Reiches gegen ihren Statthalter erhoben hätten, weshalb es Pflicht des Königs sei, ihnen Schutz zu gewähren. Heinrich IV. reagierte aber anders als im Fall von Worms. Zum einen wollte er sich in einer innenpolitisch schwierigen Lage nicht ohne zwingenden Grund mit einem so mächtigen Mann wie Anno anlegen, zum anderen erschienen die Kölner als Bedrängte, die nicht - wie die Wormser - Hilfe brachten, sondern erbaten. Zwar hielt der König in Köln Gericht und stellte strenge Verhöre über die Vorgänge in der Stadt an, aber in letzter Konsequenz einigte er sich mit Anno, ohne den städtischen Schichten Kölns einen Beweis seiner Gunst und Parteinahme zu geben. Der Aufstand in Köln war, ungeachtet latent vorhandener und ihm vorausgehender Probleme, letztlich spontan ausgebrochen und hatte sich nicht zu einem Schwurverband entwickelt. Er richtete sich gegen die Person des Erzbischofs Anno, nicht aber gegen die Stadtherrschaft als solche. Es kam daher zu keiner Kommunebildung, aber es deuteten sich erste Anfänge einer kommunalen Bewegung an. Letztendlich trugen Aufstand und aufkeimende kommunale Bewegung, genauso wie in Worms, zum Wachsen bürgerlichen Selbstbewußtseins bei. Bereits ein Jahr später, 1075, mußte der Erzbischof unter dem Druck der Städter die Exkommunikation und die Verbannung der Kaufleute aufheben. Die Rücknahme der Strafen durch den Stadtherrn war sein Tribut an die Tatsache, daß es ohne die städtischen Kaufleute und Handwerker nicht mehr weiterging. Im gleichen Jahr noch, am 4. Dezember, starb der Erzbischof. Die städtische Bevölkerung lernte aus den negativen Erfahrungen und schloß sich organisatorisch besser zusammen. Spätere Entwicklungen der kommunalen Bewegungen, nachgerade der rheinischen Städte, bewiesen, daß die Anno Domini 1074 gelegte Saat aufgegangen war.

Insgesamt ein spannend und unterhaltsam geschriebenes sowie flüssig zu lesendes Buch mit einem klaren Handlungsablauf, das einige nicht mit tatsächlichen historischen Tatsachen übereinstimmende „Ausschmückungen” des Autors enthält, auf die er allerdings korrekterweise in seinem Nachwort selbst aufmerksam macht. Das Buch stellt allerdings auch einige Anforderungen an den nicht historisch vorgebildeten Leser, da es einen relativ komplexen und mehrschichtigen historischen Prozeß zum Gegenstand hat.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 01/00 © Edition Luisenstadt, 2000
www.luise-berlin.de

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