Rezension von Helmut Hirsch


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Die Geschichte eilt, das Gedicht bleibt

 

Heinz Ludwig Arnold (Hrsg):
Einigkeit und aus Ruinen
Eine deutsche Anthologie.

S. Fischer Verlag, Frankfurt/M. 1999, 285 S.

 

 

Der Herausgeber Heinz Ludwig Arnold ist ein kundiger Mann, dazu noch ein kritischer, auf vielen Ebenen. Er ist nicht nur Herausgeber der Zeitschrift TEXT + KRITIK, sondern auch des „Kritischen Lexikons zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur” sowie des „Kritischen Lexikons zur fremdsprachigen Gegenwartsliteratur”. Sein Überblick über das literarische Geschehen ist groß, vermutlich lückenlos. Dies beweist er auch nachdrücklich mit der inzwischen in acht Bänden vorliegenden Anthologie Die deutsche Literatur seit 1945. Wer über ein derartiges Poesiewissen verfügt, kann jederzeit, aus dem Stand heraus, Parallelitäten, Querverbindungen oder Bezüge herstellen und dazu die entsprechenden literarischen Belege anführen. Zum 50. Geburtstag der Bundesrepublik Deutschland hat Heinz Ludwig Arnold die Anthologie Einigkeit und aus Ruinen zusammengestellt. Für jedes Jahr (1945 beginnend) steht ein Gedicht, kommentiert von einem Dichter, einem Musiker, Graphiker, Publizisten, aber auch von einem Unternehmer, von Anwälten, Professoren verschiedener Disziplinen und von Bundestagsabgeordneten, ehemaligen Ministern, sogar der amtierende Bundeskanzler ist mit von der Partie.

Warum eine solch illustre, von Höhe- zu Tiefpunkten deutscher Nachkriegsgeschichte eilende Versammlung? Der Herausgeber bemerkt hierzu: „Die deutsche Geschichte wurde stets begleitet von Literatur ... Die Literatur ist das vielschichtige Gedächtnis der vergangenen Zeit.” Das ist einfach und überzeugend. Schwerer hingegen war die Auswahl überhaupt. Vor allem sollten in den Gedichten „historische Facetten mehr oder weniger deutlich aufscheinen”. Das war mühevoll, und es „bedurfte einiger Equilibristik, weil jede Autorin, jeder Autor (mit der Ausnahme Gottfried Benns) nur mit einem Gedicht anwesend sein und die Gedichte einen erkennbaren oder wenigstens ableitbaren historischen Bezug haben sollten”. Das ist dem Herausgeber Heinz Ludwig Arnold gelungen, zugleich ist es seine ganz eigene Auswahl. Ein anderer hätte fast alles ganz anders machen können, denn es waltet hier wie in jeder Anthologie das Prinzip der universellen Erweiterung einer Idee. Der Herausgeber versteht sich als Gleichgewichtskünstler, wohl auch bedurfte es mancher Zaubertricks, dieses und nur gerade dieses Gedicht und nicht die denkbar vielen anderen zu einem bestimmten Jahr auszuwählen. Denn die Anthologie hat ja zwei Seiten. Das poetische Geschichtsbild sollte von einem „besonderen Leser” in eine „spannungsreiche Kombination” versetzt werden. Indem sich der Herausgeber um die Gedichte und um die Leser und Leserinnen kümmerte, vollzog er schon einen zweiteiligen Gleichgewichtsakt. Diese spannungsreiche Equilibristik setzt sich absichtsvoll-unbeabsichtigt fort in den Deutungen, Lesarten oder Kommentaren. Es sind wunderbar leuchtende Lese-Früchte, aber auch blasse Früchtchen darunter. Im ganzen ein Bild der Gegenwart. Einer eilt schnell zu seiner Meinung, der andere wartet länger, bevor er wertet oder einfach nur erwägt. Besonders lesenswert sind jene Beiträge, wo der Leser zugleich ein erlebnismäßig Erinnernder ist, einer, der den Dichter kannte und weiß, warum dieses Wort so und kein anderes an deren Stelle gesetzt worden ist.

Ost-westlicher Unmut kann hier nicht aufkommen, weit mehr als ein pralles Dutzend ostdeutscher Dichter sind in dieser Sammlung vertreten, unter ihnen Volker Braun (dessen Gedicht „Die Mauer” von Günter Gaus noch immer sehr diplomatisch interpretiert wird), Heinz Czechowski (von Wolfgang Leonhard trefflich und behutsam begleitet), Peter Huchel (der Komponist Tilo Medek erinnert eindrucksvoll an ostdeutsches Leben und analysiert ganz historisch-literarisch das Gedicht „Chausseen”) oder Sarah Kirsch. Deren Mahngedicht „Fluchtpunkt”, das mit der Zeile schließt: „Alles ist austauschbar wo wir auch sind”, von Ruth Klüger einprägsam gelesen wurde. 1982 geschrieben, erinnert dieses Gedicht 1999 daran, daß die Geschichte der Deutschen in diesem Jahrhundert viele grelle und dunkle Facetten zeigte, wo Aus- oder Umtausch, Vernichten oder Vergessen schnell Ort oder Person wechseln konnten. Eine Fülle von Bruchstellen: in der Geschichte und in den Gedichten festgehalten. Deutsch-deutsche Erfahrungen immer wieder. Der Herausgeber hat dem Buch schon mit dem Titel ein eindeutig-vielsagendes Signal gegeben, das aufhorchen läßt: Einigkeit und aus Ruinen. Von vielen, fast nicht aufzählbaren Deutsch-Ländern ist hier die Rede, und immer kommen da wohl auch in Zukunft noch ein paar (hoffentlich nicht allzu vertrackte) zusätzliche Luftgebilde hinzu. Das bizarre Ost-West-Konglomerat in der zweiten Jahrhunderthälfte bestimmt weite Strecken dieses Buches. Heinz Ludwig Arnold hat selbst im Vorspann eine „Knirschende Hymne” beigesteuert, die die Elemente der bundesdeutschen und der DDR-Hymne spielerisch zerreißt und partiell wieder ineinanderfügt. Brechts „Kinderhymne” (für das Jahr 1950) steht hier in einem nachdenklich stimmenden Kontext. Zuvor erscheint Stephan Hermlins „Die Asche von Birkenau”, gelesen von Simon Wiesenthal: „Birkenau wurde wieder lebendig, und ich fühlte den Schmerz und die Trauer, als wäre ich in Birkenau gewesen - und zwar gestern.” Nach Brechts Gedicht steht „Hiroshima” von Marie Luise Kaschnitz, interpretiert von Rudolf Scharping. Er spricht mehr über Bosnien-Herzegowina als über Hiroshima, sein Motto: „Frieden ist die Anwesenheit von Versöhnung.” Auch er billigt dem Gedicht viel zu: „Kein System, keine Theorie ersetzt den Blick auf den Menschen. Gedichte immerhin können ihn bewahren.”

Einige Konstellationen in dieser Anthologie sind verfehlt, andere hingegen nahezu perfekt getroffen. Daß Hans-Dietrich Genscher das Gedicht „Außenminister” von Gottfried Benn gelesen hat, wer hätte das nicht vermutet? Doch der Herausgeber hat an alles und fast an alle gedacht. Karl Lehmann, der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, deutet das Gedicht „Rissiges Eden” von Ernst Meister. Nicht nur ums Gedicht geht es ihm. Denn den Dichter, der einst auch evangelische Theologie studiert hatte, ihr „aber aus Glaubenszweifeln den Rücken” kehrte, will der Bischof „nicht in eine Kirche heimholen, die er bewußt verließ”. Das dürfte auch wirklich nicht möglich sein, denn Ernst Meister hat nur bis 1979 gelebt.

Oft taucht in den Gedichten das Thema deutscher Schuld auf, es wird wohl auch noch künftig das Thema vieler Interpreten bleiben. Hier, im Konzert der selbstkritischen Nachkriegsstimmen, fehlt mir aber doch ein Mann, einer, der seinen Widerspruch immer wieder eingelegt hat: Wolfgang Weyrauch. Den hat uns der kundige Herausgeber denn doch glatt unterschlagen. Fragen wir nicht nach weiteren Lücken oder Auslassungen, blättern wir in der Fülle, die aus dem Vollen schöpft. Es war nicht zu umgehen, das Jahr 1978 ist mit dem ausgebürgerten Wolf Biermann besetzt. Die „Ballade vom preußischen Ikarus” hat Egon Bahr gelesen. Und er schreibt: „Ich habe nicht vergessen, was mir damals durchs Hirn ging: Solange dieser so singt, bleibt es berechtigt zu denken: Einst wird kommen der Tag, an dem diese Mauer fällt.” Sie fiel, und stumm blieben die Dichter. Dirk von Petersdorff wird für das Jahr 1990 mit „Vom Ende” ins Feld geführt, doch der hohe und graue Gegenstand, von dem in dieser Anthologie viel zu vernehmen ist, ist kaum noch ein poetisches Thema. Dafür aber tönen hier schon kräftig wieder die neuen und aufgewärmten Melodien vom großen Krach: „Das Ende ist an der Reihe, / ist farbig gehalten, / gibt jedem das, was ihm fehlt,/ das Ende kommt gut.”

Damit kein falscher Eindruck entsteht, es sind auch all die vielen anderen bewegenden Ereignisse dieser Jahrhunderthälfte im Gedicht und im Kommentar vertreten. Aids bei Durs Grünbein (Kommentar Hella von Sinnen), die RAF im Gedicht „Auf den Tod des Generalbundesanwalts Siegfried Buback” (kommentiert vom Sohn des Ermordeten), die Fremdarbeiter bei Ernst Jandl, das Problem der Ausländerfeindlichkeit im Gedicht „Raus” von Richard Wagner.

Es fällt auf, daß die neunziger Jahre in den Texten insgesamt spannungsärmer erscheinen. Was war da doch noch alles los in den Achtzigern. Wer nach Berlin fuhr, sah zwei Städte zugleich, melancholisch von Günther Kunert in „Eine Reise wert” als „ein guter Platz, die Toten zu beschwören”, ins Bild gebracht. Und es gab einen sehr zähen und deshalb langlebigen Kanzler. Einer erinnert sich bei der Lektüre des Gedichts „Unser Kanzler” von Otto Jägersberg (1985): „Nach seinem Amtsantritt waren viele überzeugt, daß seine Kanzlerschaft nicht von langer Dauer sein werde.” Daß dies kürzlich sein Nachfolger schrieb, ist vielleicht schon ein Schritt aus der ablaufenden Geschichte hinaus, hinüber ins andere Jahrhundert, ins neue Jahrtausend. In dem womöglich noch immer nach einer anderen und weniger knirschenden Hymne gesucht werden wird. Aber es bleibt dabei: Im Fluß der Zeit erweisen sich Gedichte als kompakte und überdauernde Gebilde.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 01/00 © Edition Luisenstadt, 2000
www.luise-berlin.de

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