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Annäherung an ein
Gesamtbild
Im Gespräch mit Professor Leo Schmidt

Am liebsten würde er die Mauer auf die Liste des Weltkulturerbes setzen. Denkmale in ihrer originalen Situation zu erhalten ist sein Arbeitscredo. Die Arroganz, mit der westdeutsche Abrißmentalität den Osten beräumte, ist ihm peinlich.
Prof. Dr. Leo Schmidt übernahm nach langjähriger Tätigkeit beim Landesdenkmalamt Baden-Württemberg 1995 an der Technischen Universität Cottbus den Lehrstuhl für Denkmalpflege. Zahlreiche Publikationen belegen sein fachkundiges Engagement in Sachen Denkmalpflege. Seit November 1999 liegt eine weitere Veröffentlichung vor: „Die Berliner Mauer heute”, mit der englischen Kunsthistorikerin Polly Feversham als Co-Autorin. (Rez. im Heft, d. Red.)  

Warum steht die Mauer nicht auf der UNESCO-Liste?  

Ja, das frage ich mich auch. Inhaltlich wäre das kein Problem. Die UNESCO würde es wahrscheinlich nicht ablehnen. Aber: Das Land Berlin, der Senat, müßte überhaupt erst mal einen Antrag stellen, das heißt, der politische Wille müßte da sein. Den seh ich leider nicht. Lippenbekenntnisse gibt es genug - die sind gut für Jubiläen. Doch praktisch passiert nichts. Es ist ja nicht so, daß kein Geld da ist. Es gibt viele Möglichkeiten, aber es wird gar nicht erst versucht. Im übrigen kostet die Welterbegeschichte - also die formelle Seite - keine müde Markt.  

Womit begründen Sie diesen Anspruch?  

Ich glaube, daß es das wichtigste Geschichtsdenkmal des vergangenen Jahrhunderts ist. Ein architektonisches Sinnbild der Zerrissenheit. In der Mauer verdichtet sich unglaublich viel Geschichte. Diese Kette: NS-Regime, Zweiter Weltkrieg, Kalter Krieg, die Konfrontation und Konflikte der Machtblöcke, die sich in nichts nachstanden, was Mittel und Methoden zum Machterhalt betrifft. Das Denkmal Mauer zwingt unser Denken sowohl zurück als auch nach vorn, läßt uns Veränderungen wahrnehmen und geschichtliche Abläufe, einschließlich gegenwärtiger, kritisch hinterfragen. Die Mauer ist ein Musterbeispiel für fast alle Aspekte der Denkmalpflege.  

Welche sind das?  

Das reicht von der Erforschung und Analyse von Denkmalwerten, die ja nicht immer nur positiv sein müssen, über Fragen der Vermittlung dieser Werte bis hin zu den Problemen des konkreten Umgangs, wie Sicherung und Restaurierung des Bestandes und Konsequenzen für neue Stadtstrukturen im ehemaligen Mauerstreifen.

Welche Erfahrungen hatten Sie mit der Mauer, bevor sie ein Gegenstand Ihres beruflichen Interesses wurde?  

Keine unmittelbaren. Ich war vor der Wende einige Male in Berlin und habe mir mit großem Interesse Ostberlin, die Gestaltung dieses Teils der Stadt, angesehen. Dabei kam ich natürlich in die Situation Grenzüberschreitung. Das war nicht unfreundlich, aber Null Kommunikation und also erschreckend. Das habe ich so nie erlebt. Dieser Übergang in eine andere Realität - schwer zu beschreiben. Als ich dann 1995 nach Cottbus umgezogen bin, war Berlin mir näher. Bei Spaziergängen durch die Stadt sah ich, daß so gut wie nichts mehr da ist von der Zwei-Welten-Geschichte. Die Spuren waren weg. Das ist natürlich ein beruflicher Blick: Man schaut genauer. Denkmalpflege speist sich aus Verlusterfahrung. Und in Berlin war ein Teil der Welt einfach verschwunden, wertfrei gesehen.  

Wertfreie Sicht bringt aber in einigen politischen Zusammenhängen, und die sind bei der Mauer ja überdeutlich, mindestens Mißbilligung.  

Ja, das ist mir bei vielen Gelegenheiten klar geworden. Das nehme ich sehr ernst, was da an Emotionen und Überlegungen zur Sprache kommt. Aus auch miteinander unvereinbaren Positionen entsteht jedoch ein Meinungsspektrum. Wir - Polly Feversham und ich - haben festgestellt: Alle Meinungen sind richtig und wichtig und zu berücksichtigen. In der Kombination aller Meinungen erfolgt die Annäherung an das Gesamtbild, wird die Vielschichtigkeit eines Objektes sichtbar.  

Nun gibt es ja ein breites Publikationsangebot zur Mauer - warum noch ein Buch, und wie ist die Idee dazu entstanden?  

Das hängt natürlich zusammen. Also, durch die beschriebenen Eindrücke der Spurenlosigkeit hatte ich den Gedanken, daß man dagegen etwas unternehmen muß. Dazu kommt eben auch der wissenschaftliche Aspekt der Denkmalpflege. Nicht einfach nur Reste zusammenkramen, sondern das, was war und ist, zu dokumentieren. Ja, und dann lernte ich Polly Feversham kennen. Bei einem Vortrag über ungeliebte oder unbequeme Objekte in der Denkmalpflege, unter anderem ging es um das DDR-Außenministerium, die Deutsche Bank, das ZK in Berlin, kamen wir ins Gespräch. Sie schrieb ihre Masterarbeit über die Mauer mit einem philosophischen Ansatz, ich konnte mit Überlegungen zur Denkmalpflege helfen. Die Arbeit wurde als außergewöhnlich gut bewertet. Sie zu veröffentlichen, lag nahe. Das fand ich auch - so kam es zur Buchidee. Ab Herbst 1998 haben wir Akten gewälzt und gesichtet, nach Spuren gesucht, Zeitzeugen befragt, Verlagsgespräche geführt - am Buch gearbeitet.  

Im Text wird gesagt, daß die Mauer einen Atomkrieg verhindert habe.

Das ist keine These, die wir erfunden haben. Das ist eine mögliche These zur Situation 1961, was übrigens von verschiedenen, ganz normalen Leuten damals so empfunden wurde. Ich denke, in dieser Zeit war auf beiden Seiten viel Lärm aus Angst, befördert durch partiell geschürte Angst-und Beißreflexe. Eine hysterische Situation. Die Mauer entschärfte, machte die politische Lage berechenbarer - die Amerikaner haben zumindest tief duchgeatmet. Die Russen sowieso, die sahen ihr Einflußgebiet gesichert. Die Atomkriegsthese überspitzt, aber umreißt die damalige Situation.  

Wie betrachten Sie die Mauer?  

Als eine Bankrotterklärung des Staates DDR, die außer Schmerz und Leid für viele Menschen für das politische System nicht mal was gebracht hat.  

Wie bewerten Sie Stand und Qualität der Denkmalpflege in der DDR?  

Mein Eindruck war zwiespältig. In Cottbus und anderswo gab es viel mehr historische Substanz als in der BRD, wo längst zuviel abgerissen, versaut, modernisiert war. Aber der Zustand war katastrophal. Selbstverständlich gab es richtig gute Beispiele für Denkmalpflege, das wirkt bis heute. Die DDR-Kollegen waren fachlich ebenso gut wie die im Westen, nur hatten sie kaum eine Chance. Nach der Wende mußten die nicht etwa vom Westen lernen, 130 bis 140 Jahre Tradition waren auch in der DDR präsent.  

Was wollen Sie heute an der TU in puncto Denkmalpflege vermitteln?  

Unbedingt den kompetenten Umgang mit historischer und Altbausubstanz. Wir haben einen postgradualen Studiengang eingeführt, in dem Praxisleute Sanierungstechniken studieren, wo das Bauen und Erhalten nach denkmalpflegerischen Maßstäben gelehrt wird. Nicht jeder Bauunternehmer hat einschlägige Erfahrungen, und mancher Bauherr pfeift sogar darauf. Aber Abriß ist meistens ein Verlust an originalem Stadtcharakter und an Geschichte. Denkmalpflege ist immer auch Ausdruck des allgemeinen Werteverständnisses und seiner Vermittlung in der Gesellschaft. Im Buch gibt es einen Gedanken, den ich schön und zutreffend finde: Wir müssen die Erinnerung vor dem Vergessen schützen.
 

Das Gespräch führte Burga Kalinowski


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 01/00 © Edition Luisenstadt, 2000
www.luise-berlin.de

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