Eine Annotation von Volker Strebel


Ajgi, Gennadij: Wind vorm Fenster
Aus dem Russischen von Felix Philipp Ingold.

Erker Verlag, St. Gallen 1998, 71 S.

 

Seit 1959/60 schreibt der Tschuwasche Gennadij Ajgi seine Gedichte in russischer Sprache - übrigens auf Anraten von Boris Pasternak. Eine faszinierende Mischung, die sich aus den Mythen der tschuwaschischen Volksüberlieferungen speist und zugleich in einem tiefempfundenen orthodoxen Glauben wurzelt. Andererseits stehen Ajgis Verse im Bann von Baudelaire und den französischen Symbolisten, bilden eine dynamische Lebensform suprematistischer Reduziertheit: „Die sprache - in der dichtung - existiert, um das auszudrücken, / was - in - ihr / nicht existiert.“

Existentielles Erleben wird bei Ajgi nicht geschildert oder beschrieben. Die Verse selbst werden zum Werkzeug des Empfindens, Worte werden zu Werken, Buchstaben zu Lauten und damit erst wird der Versuch unternommen, doch etwas zu vermitteln. Das Aufbrechen klassischer dichterischer Formen ermöglicht ein Hineinkriechen in Empfindungen, zertrümmerte Worthülsen setzen Empfindungen frei. Die Stille selbst wird zum Wert erhoben. In der Wahrnehmung von Lauten werden Gerüche kombiniert, Farben und Gefühle ersetzen konventionelles Erzählen. Poesie ist nur sich selbst Untertan!

Der in Moskau lebende Gennadij Ajgi hielt seine poetische Verwurzelung im Dialog mit Künstlern, Musikern und Dichterfreunden - russischen wie nichtrussischen - aufrecht. In seiner Heimat wurde Ajgi über Jahrzehnte nicht publiziert und erst in jüngster Zeit als eine der eindrucksvollsten Stimmen wahrgenommen.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 11+12/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

zurück zur vorherigen Seite