Eine Rezension von Sibille Tröml


Das Leben ertragen bis zum Tod

Erica Pedretti: Kuckuckskind oder Was ich ihr noch sagen wollte

Roman.

Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M. 1998, 185 S.

 

„Ein erstes Zeichen beginnender Erkenntnis ist der Wunsch zu sterben. Dieses Leben scheint unerträglich, ein anderes unerreichbar. Man schämt sich nicht mehr, sterben zu wollen; man bittet, aus der alten Zelle, die man haßt, in eine neue gebracht zu werden, die man erst hassen lernt.“ - Wer so denkt, dessen Leiden am Leben muß ein sehr großes sein, und Krankheit, Alter, „körperliche Gebrechen“, immer schwerer lastende Demütigungen oder eine nicht mehr zu ertragende Einsamkeit mögen die körperlichen oder seelischen Gründe dafür sein. Für Sophie Morlang, die in Gedanken oder auch laut oft nur zu sich selbst Redende in Erica Pedrettis Roman, ist es so etwas wie die Steigerung von alledem, denn es ist alles zusammen. Und, was das Ganze noch verschlimmert: Sophie Morlang weiß darum.

Müde, aber schlaflos liegt sie in einem Bett, welches nicht das ihre ist, an einem Ort, den sie nicht mehr verlassen will (und wird), räumlich und zeitlich weit entfernt von den Welten einer kurz, aber sehnsuchtsvoll erinnerten Kindheit und frühen Jugend. Ein Leben lang war sie da für andere, sei es als Pflegemutter oder Pflegetante für ihr anvertraute Kinder, sei es als pflegende Tochter, Nichte, Schwester oder Ehefrau. Nun, da sie alle überlebt hat, den geliebten Vater, die geliebte Mutter, den geliebten Bruder Gregor, die geliebte Schwester Fanny, die geliebte Tante Olga und den Ehemann Otto, liegt sie an einem namenlos bleibenden Ort und ist selbst zum „Pflegefall“ geworden. Die Gicht hat ihre Finger in „Schwanenhälse“ verwandelt, sie sieht immer weniger, hört immer weniger, vergißt immer mehr und mag zu rein gar nichts mehr aufstehen. Alles, was geschieht, das geschieht in diesem Bett, und neben einer stetig wachsenden Kraft-, Lust- und Hilflosigkeit ist dies vor allem das Erinnern an Vergangenes und das Ertragen von Gegenwärtigem. Doch wer meint, letzteres habe in erster Linie zu tun mit dem, was man gemeinhin „körperlichen Verfall“ nennt, der irrt. Mehr als an dem, was sie selbst das „Älterwerden. Altwerden.“ nennt, leidet Sophie Morlang an einer ihr Leben seit Jahrzehnten überschattenden Fremdbestimmung und Selbstzurücknahme. War es früher der „kein Vergnügen“ (mit anderen) auslassende Ehemann Otto, der ihre Wünsche und Sehnsüchte, ihre Hoffnungen und ihr Wollen gnadenlos egoistisch mißachtete und unterdrückte und sie so zum Stummsein zwang, so ist es nun Trude, das vierte Pflegekind. Sie ist das Kuckuckskind, und das nicht nur, weil das damals kleine Mädchen aus Sachsen gegen Kriegsende eigentlich bloß für wenige Wochen bleiben sollte; mittlerweile sind daraus 55 Jahre geworden. Als „zweifelhafte Gabe“ erscheint Trude auch, weil sie von Beginn an versuchte, alle anderen zu verdrängen, weil sie - wie Sophie glaubt - eine der Vergnügungen ihres Ehemanns war und weil sie mit dem, was sie „Liebe“ und „Fürsorge“ nennt, das Leben der alten Dame auch im Heim noch streng und unerbittlich nach ihren Vorstellungen dirigiert. Hinzu kommt, daß die Hilf- und Wehrlosigkeit der von Trude nie als Pflegemutter bezeichneten „Tante“ von der Jüngeren mit der ihr eigenen Egozentrik geradezu erpresserisch ausgebeutet wird: Künstlich wirkende Ausbrüche von Liebesbekundungen sind aus Angst vor ihren Weinanfällen dabei genauso zu ertragen wie detaillierte Schilderungen aus dem Intimleben oder unzählige Vorwürfe, die nicht selten herzlose Beleidigungen sind. Nicht zuletzt deshalb ist Sophie Morlang auch in den letzten Wochen und Tagen ihres Lebens das, was sie seit dem Verlassen ihres recht emanzipatorisch ausgerichteten Elternhauses war: ein zum Erdulden und zur Wehrlosigkeit degradiertes Objekt. Immer haben andere, hat die Gesellschaft an ihr gehandelt: Mal war es Otto, mal war und ist es Trude, mal waren es Konventionen, und nicht selten war es die Politik, die - wie sie es nennt - „Geschichte“. Zwar habe sie stets versucht, sich aus letzterer herauszuhalten, doch sei dies, wie sie mehrfach unterstreicht, nicht möglich gewesen. Und so sah sie sich einer ihrem Wesen fremden Ideologie ebenso ausgesetzt wie Krieg, Demütigungen und der Vertreibung aus ihrer mährischen Heimat. Mit den physischen Vergewaltigungen einher gingen vorher und hinterher unzählige seelische, und Sophie Morlang läßt sie alle in ihrem Kopf (noch einmal) Revue passieren - durch versuchtes oder sich aufdrängendes Erinnern, gepaart mit unvermeidbarem Vergessen, sowie durch ein gegen Ende des Buches (und ihrer letzten Lebensmomente) einsetzendes Vermischen von Erinnerungs- und Gedankenfetzen.

Gerade jüngere Leser mag dabei erschrecken, daß dieses Leben, das hier zwischen dem ersten und dem letzten Satz memoriert wird, ein in ihren Augen ungelebtes, weil nicht ausgelebtes Dasein war. Da war und ist nichts von Selbstverwirklichung, nichts von Liebe und nichts von Zärtlichkeit, statt dessen um so mehr von ehe- und hausfraulicher Unterordnung im negativsten Sinne, von Traurigkeit und einer aus Zärtlichkeitsentzug erwachsenden großen Sehnsucht, die schließlich in eine noch größere Angst vor jeglicher Berührung durch andere mündet. Wen wundert es deshalb, daß diese Frau nur noch eines möchte: „Erleichterung“. Erleichterung von einem Leben, das in der Mehrzahl seiner Stunden ein Überleben war, ein stetiges Konfrontiertsein „mit einem, mit etwas, das stärker ist als ich, dem ich mich nicht widersetzen, nicht entwinden kann“.

Kuckuckskind oder Was ich ihr unbedingt noch sagen wollte ist ein leises und gerade auch dadurch so erschütterndes Buch. Fernab von harten Worten und lauten Begriffen macht es Gedanken einer Frau öffentlich, deren Überlebensmaxime der unfreiwillige Rückzug, das Sich-Einigeln inmitten der Gemeinschaft war und ist. Diese Reaktion aber ist ebensowenig ein Einzelfall wie das Verhalten derer, die sie produzieren. Indem Erica Pedretti die letzteren durch Sophie Morlang als „taube Seelen“ bzw. als „seelentaub“ charakterisieren läßt, vermeidet sie indes nicht nur das sich strenger anhörende Wort „unmenschlich“. Sie stellt auch dem Begriff „Seelenpest“ ihres fast gleichaltrigen und in der Bundesrepublik leider viel zu wenig bekannten Schweizer Kollegen Jürg Federspiel einen inhaltlich ebenso schwerwiegenden, klanglich aber weicher anmutenden Begriff zur Seite. Frauenforscherinnen und/oder Feministinnen mögen hierin einen Unterschied zwischen weiblicher und männlicher Sprache sehen, doch geht es den schreibenden Frauen und Männern in der deutschsprachigen Schweizer Literatur (dieser Generation) weniger um eine (möglicherweise existente) geschlechtsspezifische Ästhetik als vielmehr darum, daß jede Frau, jeder Mann in erster Linie Mensch ist. Vor diesem Hintergrund verwundert es wenig, daß Erica Pedrettis Heldin von beiden Geschlechtern eingeengt und unterdrückt wurde. Die Tatsache, daß es sich bei Sophie Morlangs - wenn man so will - Haupt- bzw. Lang-zeitbedrängern zudem um Angehörige zweier verschiedener Generationen handelt, scheint in diesem Zusammenhang genauso bedeutsam wie die, daß der eine aus Mähren stammt und die andere aus Sachsen und daß beide zusammen nach der Vertreibung aus der Tschechoslowakei in einer von Sophie Morlang als „Ausland“ bezeichneten Region weiterleben und wie gewohnt weiterhandeln. - Seelentaubheit, Seelenpest, Unmenschlichkeit, sie sind an kein Geschlecht, keine Generation und - wie weitere Beispiele in diesem erinnerten Leben zeigen - an keine geographische Herkunft, keinen geographischen Ort gebunden.

Was neben dieser nicht neuen, aber eindringlich gestalteten Erkenntnis nach der Lektüre dieses Romans bleibt, sind viele Fragen konkreter oder allgemeiner Art. Am (psychologisch-)rätselhaftesten ist dabei jene, warum die, wie es scheint, selbst höchst unzufriedene, unglückliche Trude sich so verhält, wie sie es tut. Grund für diesen Status des Ungeklärten aber ist nicht nur der von Sophie Morlang bereits zu Beginn ihrer „aufgeschriebenen“ Gedanken als einseitig gewertete Standpunkt, sondern auch die Tatsache, daß beide Frauen es nicht vermögen, einander ihre wahren Gedanken, ihren wahren Schmerz mitzuteilen. Nicht zuletzt deshalb bleibt das von der Älteren ausgehende „Was ich ihr unbedingt noch sagen wollte“ des Romanuntertitels möglicherweise auch eine der Lasten, welche die Jüngere nach dem Tod der Älteren für den Rest ihres Lebens mit sich tragen wird.

Und so ist dieser Roman, der den Abschied vom Leben ebenso thematisiert wie den Wettlauf von Erinnern und Vergessen (und der gerade deshalb ungeachtet seiner Andersartigkeiten an Max Frischs Der Mensch erscheint im Holozän und Walter Vogts Altern erinnert) auch ein zwar unaufdringliches, aber sehr eindringliches Plädoyer für das Miteinander-Reden und die dazu notwendigen Voraussetzungen, als da sind: gegenseitige Achtung und Rücksichtnahme, Gleichberechtigung, das Recht auf Selbstentfaltung und Selbstbestimmung oder - wie es an einer Stelle „nebenbei“ heißt - „wahre Liebe“. Gemeint ist damit nicht nur die von Sophie Morlang so sehr vermißte Gefühlsbeziehung zwischen Mann und Frau, sondern auch das diese Beziehung einschließende, weil ihm „übergeordnete“ Gefühl des Hingezogenseins und der Opferbereitschaft gegenüber jedem Menschen. Wenn es deshalb an einer Stelle heißt: „Sind alle Menschen mehr zum Bösen denn zum Guten geneigt? Jedenfalls nicht zur Nächstenliebe.“, mag der eine dieses Fazit ihres „geopferten“ Lebens als Einzelfall bedauern, während ein anderer darin die realistische Einschätzung einer Gesamterscheinung sehen mag. Zu hoffen ist, daß möglichst viele weder das eine noch das andere akzeptieren.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 3/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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