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J. K. A. Thomaneck

Zum Stellenwert der Internationalen Brigadisten bei Anna Seghers im Kontext der Ankunftliteratur der DDR

 

Daß die DDR mit ihrem real existierenden Sozialismus den Bürgern dieses Staates keine sozialistische Heimat war, hat die Geschichte während der Implosionsperiode 1989/90 gezeigt. Der große Traum von Ernst Bloch, der in den letzen Zeilen seines Werkes Das Prinzip Hoffnung den Begriff Heimat definiert, war trotz verzweifelter Versuche, den Bürgern soziale und gesellschaftliche Sicherheit zu geben, nicht Wirklichkeit geworden. Bloch hatte eine Vision, nach der sich „der arbeitende, schaffende, die Gegebenheiten umbildende Mensch [...] erfaßt und das Seine ohne Entäußerung und Entfremdung in realer Demokratie begründet. Und dabei wird dann entstehen das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat.“1) Dieser Aufsatz beschäftigt sich mit einer ganz spezifischen Menschengruppe, d.h. den internationalen Brigadisten des Spanischen Bürgerkrieges (1936-1939), die Leib und Leben für die spanische Republik, für Demokratie, aber auch für den Sozialismus einsetzten. Viele dieser Brigadisten kehrten nach dem Zweiten Weltkrieg in die damalige sowjetische Besatzungszone, aus der 1949 die DDR hervorging, zurück und erwarteten von diesem sich selbst als antifaschistisch definierenden Teil Deutschlands und dann der DDR, daß hier die Idee des Antifaschismus und des Sozialismus in die Realität umgesetzt würde. Die DDR würde zur Heimat dieser Menschen werden, und so wären dann auch die Opfer des Bürgerkrieges, des Exils, der Konzentrationslager und des Nazi-Terrors historisch und individuell gerechtfertigt. Der Aufbruch in eine neue Heimat wurde von Anna Seghers in ihrer Kurzgeschichte „Der Führer“ so formuliert: „Wenn es keine Zukunft mehr gibt, ist das Vergangene umsonst gewesen.“2)

In ihrem Aufsatz „Zum Stellenwert des Spanischen Bürgerkriegs in Anna Seghers’ Romanen Die Entscheidung und Das Vertrauen3) greift Gertraud Gutzmann diese historische Erbefunktion des antifaschistischen Kampfes in Spanien auf. Es ist bis jetzt die letzte größere Untersuchung zu diesem Thema bei Anna Seghers. Gertraud Gutzmann sagt am Ende der achtziger Jahre:

In Die Entscheidung (1959) wird der Spanische Bürgerkrieg als antifaschistisches Erbe der jungen DDR über die Lebensgeschichte dreier ehemaliger Interbrigadisten in das Romangeschehen eingebracht.

In Das Vertrauen greift sie das Spanienthema noch einmal auf ... Meine Aufmerksamkeit richtet sich dabei insbesondere auf die politisch-moralische Vorbildlichkeit, mit der sie die ehemaligen Spanienkämpfer ausstattet, die ihre Gewißheit über die gesellschaftliche Neugestaltung aus der Erinnerung aus Spanien beziehen ... (Ebd. S. 196f.)

Und abschließend gelangt Gutzmann nach ihrer Analyse des Spanischen-Bürgerkrieg-Themas bei Seghers zu folgendem Urteil:

Ihre erzählerischen Anmerkungen zum Spanischen Bürgerkrieg jedoch richten sich nicht auf eine kritische Aufarbeitung eines bedeutsamen Abschnitts linker Geschichte. Sie dienten eher dem Zweck, den Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft als das rechtmäßige Ziel der vergangenen Kämpfe zu gestalten. (Ebd. S. 210)

Ziel dieses Beitrages ist es, auf der Grundlage einer Analyse von Anna Seghers’ Der gerechte Richter eine grundsätzliche Korrektur von Gutzmanns Fazit vorzulegen. Es ist darauf hinzuweisen, daß Gutzmann zur Zeit ihres Forschungsbeitrags diese Erzählung natürlich nicht einbeziehen konnte. Ein weiteres Ziel ist die Herausarbeitung der Tatsache, daß die sogenannte Ankunftliteratur der DDR (etwa Mitte der 60er Jahre) dieselbe Thematik der Interbrigadisten verarbeitet und zu ähnlichen Schilderungen wie Seghers kommt. Bei der Herausarbeitung dieses Kontextes wird nur exemplarisch vorgegangen werden. Dieser Aufsatz will in einem größeren Rahmen einen Beitrag in der Exilforschung zum Thema Exil und Heimkehr in bezug auf Heimatfindung leisten.

Anna Seghers schrieb 1957/58 die erst 1990 veröffentlichte Fassung einer Novelle Der gerechte Richter. Alles deutet darauf hin, daß diese Fassung nie wieder überarbeitet wurde und sozusagen in der Schublade blieb. Seit der Veröffentlichung hat diese Novelle Anlaß zu einer intensiven Diskussion gegeben, insbesondere vor dem Hintergrund des Janka Prozesses, wie er von Janka selbst geschildert worden ist.4) Trotz dieser intensiven Diskussion gibt es wenige textanalytische Untersuchungen. Die Untersuchung der zentralen Bedeutung, die der Spanische Bürgerkrieg in dieser Novelle einnimmt, ist bis jetzt vernachlässigt worden.

Der gerechte Richter ist die Lebensgeschichte eines Mannes, Jan, der nach dem Krieg Jura studiert und Untersuchungsrichter wird. Die Novelle sagt nichts Genaues über den Ort der Handlung aus, aber die Geschichte spielt zweifelsfrei in einem Land des real existierenden Sozialismus. Dem jungen Richter Jan wird der Fall eines gewissen Viktor Gasko übertragen, den höhere Stellen - und vor allem Jans Mentor und Vorgesetzter Kalam - schuldig finden wollen. Letztlich wird Jan der Fall abgenommen, da er ihn aus juristischen Gründen nicht schnell genug vorantreibt. Er selbst landet in einem Lager, wo er auch Viktor Gasko wiedertrifft. Den Schluß der Novelle bildet ein kurzes Gespräch nach ihrer Entlassung.

Schon sehr früh wird im Text auf den Spanischen Bürgerkrieg verwiesen. Einer von Jans Freunden, Stefan, war Offizier in diesem Krieg, während sein anderer Freund, Andreas, gerne Lieder aus diesem Krieg sang. Jan selbst erzählt gerne Stefans Kriegserlebnisse neuen Bekannten weiter, bemerkt aber schon früh das Fehlen von Offenheit: „Doch kam es ihm vor, er könne mit diesen nicht so unumwunden, so offen sprechen wie mit Andreas und Stefan.“ In seiner kurzen Karriere etabliert sich Jan als „gerechter“ Richter. Doch endet seine Karriere jäh, als ihm der Fall Viktor Gasko übertragen wird. Viktor Gasko, der jetzt Biologe ist, wird angeklagt, seit Jahr und Tag Berichte an das Ausland geliefert zu haben. Jan kennt ihn durch Stefan und hatte ihn mehrere Male getroffen. Viktor war im Spanischen Bürgerkrieg gewesen, danach war er in Frankreich interniert worden und bei der Besetzung Frankreichs in ein deutsches Lager geraten: „Und Ende des Zweiten Weltkrieges war er, ein Knochengerüst, so dünn wie ein Schatten, nach hundertmal überstandenem Tod, in die Heimat zurückgekehrt.“ Jan selbst sagt später, daß er Menschen wie Stefan und Viktor um dieses Stück Vergangenheit, nämlich den Einsatz im Spanischen Bürgerkrieg, beneidet habe.5) Zum Verhängnis wird Viktor Gasko sein Auftrag, Kontakt mit einem Wissenschaftler in Kanada zu halten, der auch sein Kampfgefährte in Spanien gewesen war, sich aber - über die Zustände gut informiert - abwertend über Gaskos Heimatland geäußert hatte. Dieser gemeinsame Spanieneinsatz wird geradezu als Negativum gegen Gasko gewertet, ein heroischer Einsatz des Lebens „für die Sache“ in der Vergangenheit wird in der Heimat der Gegenwart zum Nachteil ausgelegt. Dies führt, vor dem Hintergrund der Angst, des Mangels an Offenheit, des Prinzips der Sippenhaft und durch Anpassung, letztlich dazu, daß der Spanienkämpfer Stefan seinen Kameraden Gasko verleugnet. Als Jan versucht, Entlastungspunkte für Viktor Gasko zu sammeln, wendet er sich an dessen alten Kampfgefährten Stefan:

„Du hast vor einigen Jahren einen gewissen Viktor Gasko zu uns hinauf gebracht, erinnerst du dich? Ihr wart zusammen im Spanischen Bürgerkrieg -.“

Stefan unterbrach ihn: „Ich weiß nicht mehr, wer ihn zu euch gebracht hat, wahrscheinlich Andreas. Ich traf zwar den Viktor Gasko ein paarmal in Spanien, aber nur kurz; denn wie du weißt, war ich zweimal schwer verwundet. Ich war dann jedesmal auf Genesungsurlaub. Dann wurde ich auf einem anderen Punkt eingesetzt, so daß ich nicht mehr mit ihm in Berührung kam. Nein. Wenn du Auskunft willst über diesen Gasko, dann bist du hier an den Falschen geraten. -“ (Ebd. S. 26)

Gaskos Rückkehr in die Heimat bedeutet für ihn den Gulag. Seine Verzweiflung ist so grenzenlos, daß er fast bis zum Selbstmord getrieben wird. Als Gasko und Jan sich im Gulag treffen, sagt Gasko:

„Nun, sag mir, du warst es ja, der mich gestern gefragt hat, warum ich so etwas hier tat, lohnt es sich noch zu leben? In Spanien, als wir verlassen waren, auf Francos Seite zurückgeblieben, und wir hörten einen von den Mauren zerstochenen Brigadier ,Mutter‘ schreien, da hab ich nicht vergessen, wofür sich das Leben lohnt. Und als unsere Sache verloren war, da hab ich’s auch gewußt, erst recht, und in den furchtbaren Tagen im Krieg. Erst recht. Und dann, dann kam, wie heißt es, die Verwirklichung unseres Traumes, und nicht nur unseres, uralter Menschenträume. Und dann geschieht uns, was wir erlebten, man sperrt uns ein mit Räubern und Dieben. Wer? Warum?“ (Ebd. S. 53)

Viktor Gaskos Fazit lautet: „Es ist euch also gelungen, unsere Idee ganz zu verhunzen, endgültig.“ (Ebd. S. 51) Wie löst Anna Seghers diesen Konflikt eines unschuldig verurteilten, im unmenschlichen Gulag sitzenden Spanienkämpfers mit dem Optimismus der fortschrittlichen Idee? Auf der Charakterebene macht sich der Einfluß Jans bemerkbar, der trotz des Stalinismus an die Zukunft glaubt. Auf die Frage eines Mitgefangenen, ob er diesen Staat noch einmal wählen würde, antwortet Jan: „Dann würde ich ihn wieder wählen [...], und diesen Staat, nur diesen gerade diesen so gut wie möglich machen!“ (ebd. S. 38) Jan erhält sich seinen Glauben an die Idee durch den Einfluß von Andreas, der ebenfalls im Gulag gelandet ist. An einem Tag im Gulag hört Jan aus der Ferne ein Lied: „Doch bald darauf, sogar etwas näher als vorher, erschallte es wieder, diesmal war es ein spanisches Lied. Jan dachte sofort: Das ist Andreas.“ (Ebd. S. 44) Dieses Lied und das Treffen mit Andreas stärken seine Zuversicht:

Sie umarmten sich. Andreas zerrte noch einen heran, er sagte: „Der ist ein guter Genosse, Gerson ist hier wie wir.“

„Warum aber sind wir hier?“ fragte Jan.

Andreas lachte: „Auf jeden Fall sind wir unschuldig hier.“

Als die Werkzeugausgabe beendet war, sagte Andreas noch schnell: „Als die Partei verboten war, war mein Vater eingesperrt unter allen möglichen Gaunern. Da haben sich denn auch schnell ein paar Genossen gefunden. Solche wie wir drei.“ (Ebd. S. 46)

In diesem stalinistischen System sitzen die guten Genossen im Gulag, erhalten sich aber ihren Glauben an die Idee wie in den faschistischen Lagern. Auf der ideologischen Ebene bietet Seghers folgende Lösung an: Die Verhunzung der Idee im Stalinismus liegt nicht an der Idee und dem System, sondern in den Fehlern einzelner Machtmenschen. Jan sagt zu Viktor Gasko:

„Du sprichst von unserer Idee. Wovon sprichst du? Von einem einzelnen Mann? In einem einzelnen Mann hab ich mich bös geirrt. Ich tät ihm einen Gefallen, wenn ich deshalb verzweifeln würde.“ (Ebd. S. 54)

Auf der Erzählebene bedient sich Anna Seghers geradezu eines Tricks. Auch in Anbetracht der Tatsache, daß die Novelle nie überarbeitet wurde, dürfte die Abruptheit des Schlusses bei einer Überarbeitung kaum weniger kraß ausgefallen sein. Victor Gasko und Jan befinden sich einige Jahre später in Freiheit. Victor sagt: „Wir müssen kommen, wir sind im Recht.“ Zuletzt heißt es:

Doch irgendwie war es richtig, was Viktor sagte. Sie waren festgeblieben für sich und für alle, wenn sie dafür auch nicht gefeiert wurden, es blieb ein Sieg, ein ungefeierter, wenn man von dem Mahl absah, das ihnen Jans Mutter bereitet hatte. (Ebd. S. 56)

Der Leser kann annehmen, daß mit diesem Schluß eine optimistische Note angeschlagen wird und „die Idee“ nicht mehr verhunzt ist. Der Schluß zeigt aber auch an, daß eine Vergangenheitsbewältigung der Kalam/Stalin-Periode nicht stattgefunden hat, denn die guten Genossen bleiben „ungefeiert“. Fragt man nach der Funktion der Interbrigadisten in dieser Novelle, so ist die Antwort eindeutig: Die spanische Vergangenheit, die gleichzeitig „die Idee“ verkörpert, steht im Gegensatz zur „Kalam/Stalin-Zeit“, in der die Idee (endgültig?) verhunzt wurde. Es ist in diesem Zusammenhang bezeichnend, daß Anna Seghers - trotz des ausdrücklichen Hinweises auf Kalams Einkerkerung unter dem Faschismus, der Figur des Viktor Gasko, einem Exilanten also, diese Funktion überträgt und er somit Vorbildfunktion im typisch Seghersschen Sinne für Jan hat.

Anna Seghers steht mit ihrer Bearbeitung des Spanien-Themas nicht allein in der Literaturgeschichte der DDR: Isolation, Nichtanerkennung und Verlust der Vorbildfunktion sind durch aus typisch für die Literatur der DDR in den 60er Jahren, da, wo internationale Brigadisten auftreten. In Der Weg nach Oobliadooh von Fritz Rudolf Fries (1966) wird die Situation spanischer Emigranten, die im Bürgerkrieg gekämpft hatten, als isoliert und ungewürdigt beschrieben, sie sind Fremde in ihrer neuen Heimat, die ihnen keine geworden ist:

A. dachte an die Emigranten im Weißen Hirsch, verschanzt hinter Tassen und Weingläsern. Wahrscheinlich warteten sie, bis ihnen der General, der ihr General war, die Schlacht an der Sierra de Guadarrama oder wo auch immer gewann.6)

Arlecqs Geliebte, das Emigrantenkind Maria Dolores (d.h. Isabel), wird als „Fremde in fremdem Land“ beschrieben (S. 16), die auch ihrer Vatergeneration entfremdet ist. In diesem Roman eines dem Individuum entfremdeten Staates DDR verweisen die Person Isabels und auch das spanische Emigrantendasein explizit auf die Tatsache, daß die DDR keine neue Heimat bietet. Die Individuen und die Gruppe der Emigranten sind im Buch auf sich selbst zurückgeworfen.

Das Nicht-gewürdigt-Sein und der Verlust der Vorbildfunktion eines Interbrigadisten wird auch kurz, aber kritisch, von Brigitte Reimann in ihrem großen Roman Franziska Linkerhand (1974) erzählt. In diesem Roman einer Ankunft im Alltag, in dem es für die Heldin vor allem auch um Vorbild und Aufgabe geht, wendet sich Franziska an die Presse, um Unterstützung bei der menschenwürdigeren Gestaltung von Neustadt zu erhalten. Franziska stößt so auf den Spanienkämpfer Hans alias Otto Laubfinger, Redakteur eines Lokalblattes. In seiner Person trifft sie auch auf Resignation, auf eine Mentalität wie in der letzten Strophe des Florian-Geyer-Liedes „Unsere Enkel fechten’s besser aus“. Otto Laubfinger sagt zu Franziska:

„... du wirst trotzdem noch genug Leuten auf die Krawatte treten. Mich, mich trifft es nicht mehr, ich habe schon mein Verfahren wegen Partisanentum weg, und nächstens werde ich abgeschoben, einen weiteren Orden an der Brust und die stolze Perspektive als Kassierer im Veteranenklub.“7)

Ottos Kurzbiographie zeigt, daß er ein Gerichtsverfahren wegen Abweichlertums in der DDR hinter sich hat, daß er jetzt nicht mehr gebraucht wird, aber noch einen Orden bekommt, und daß er sonst als kämpfender und arbeitender Mensch und Interbrigadist endgültig „abgewickelt“ ist. Die DDR, so zeigt die Literatur, braucht die Brigadisten nicht, sie sind im besten Fall Respektspersonen.

Daß solche Personen dann aber doch zu Vorbildern für einzelne Menschen in der DDR werden, und dann vor allem im Gegensatz zum Staats- und Parteialltag dieses von Betonköpfen vertretenen Staates, zeigt sich scharf herausgearbeitet in Ulrich Plenzdorfs Die neuen Leiden des jungen W. (1973) Der junge Aussteiger Edgar Wibeau wird Mitglied einer Malerbrigade und reiht sich somit bedingt wieder in die Ordnung ein. Ein Mitglied dieser Brigade und Vertreter der Ordnung ist sein Arbeitskollege Zaremba, der sich aber in Edgars Augen ganz anders als die anderen Ordnungsvertreter ausnimmt. Er wird zum Vorbild und Helden Edgars: „Zaremba war edel. Der hätte welche [Jeans] tragen können, wenn er gewollt hätte und es hätte keinen angestunken.“8) Oder: „Schiller und Goethe und die, das waren vielleicht wertvolle Menschen. Oder Zaremba.“ (Ebd. S. 87) Zaremba war Interbrigadist im Spanischen Bürgerkrieg gewesen. Er weist biographische Details von Brechts Azdak-Figur auf, denn er soll nach dem Zweiten Weltkrieg Volksrichter gewesen sein: „Irgendeiner hatte mir erzählt, Zaremba soll gleich nach fünfundvierzig für drei Wochen Oberster Richter oder so von Berlin gewesen sein. Er soll ganz ulkige und ganz scharfe Urteile gefällt haben.“ (Ebd. S. 94) Zaremba ist jetzt über siebzig, Gewerkschaftsobmann der Malerbrigade, und beeindruckt Edgar durch seine Kommunikationsfähigkeit, sein Liebesleben, aber vor allem durch seine Clownerien. Zaremba hat den Respekt aller Arbeitskollegen und verschafft sich in Augenblicken der Krise durch das Singen von Liedern aus dem Spanischen Bürgerkrieg absolute Autorität. Zwei Probleme schneidet Plenzdorf in der Person Zarembas an: 1. Die Suche nach einem Vorbild: Edgar mokiert sich über das pädagogische Vorbildgehabe in der DDR: „Genauso mit diesem Vorbild. Alle forzlang kommt doch einer und will hören, ob man ein Vorbild hat und welches, oder man muß in der Woche drei Aufsätze darüber schreiben.“ (Ebd. S. 15) Edgar findet sein (einziges lebendes) Vorbild in dem verschrobenen Außenseiter Zaremba, der im DDR-Kontext eine abservierte Person ist. 2. Humor und Betonköpfe. Die Figuren der Erzählung lassen sich aufteilen in Charaktere mit einem Sinn für Humor und humorlose Betonköpfe. Zaremba ist einer der wenigen Menschen, denen Edgar im DDR-Alltag der Erwachsenen begegnet, der kein Betonkopf ist. Die andere Person ist seine Geliebte Charlie. Alle drei sind Clownerien nicht abgeneigt. Obwohl Zaremba seine alltägliche Nische in der DDR-Gesellschaft gefunden hat und diese so ausfüllt, daß er zum Vorbild Edgars wird, so bleibt gerade Edgar trotzdem heimatlos.

Hermann Kants Die Aula ist mehrschichtig angelegt. So ist der Roman selbstgerecht und selbstbewußt eine Verwerfung des existierenden sozialistischen Realismus und ein propagierter programmatischer Neuansatz in der DDR-Literatur. Er ist aber auch im Sinne des Heine-Zitats, das als Motto dem Roman vorangestellt ist, eine Abrechnung mit dem frühen Stalinismus in der DDR und eine Bestandsaufname der DDR der frühen sechziger Jahre. In diesem historischen Kontext spielt das Spanienmotiv in der Form von Liedern, aber vor allem in der Person des Haiduck eine zentrale Rolle. Der Kampf der jugendlichen Eiferer der Pionierzeit nach dem Krieg für die Errichtung des Sozialismus wird bei ihren Aktionen und Demonstrationen begleitet vom Absingen der Lieder des Spanischen Bürgerkriegs. Diese Lieder sind Erbe und Ansporn und haben Vorbildfunktion. Das zeigt sich auch in den anderen hier besprochenen Werken von Seghers und Plenzdorf. Weitaus wichtiger ist allerdings in diesem Zusammenhang die Person des Haiduck. Die Hauptfigur des Romans, Robert Iswall, wird des öfteren als hochmütig, kaltherzig (Iswall=Eiswall) und unnahbar charakterisiert. Er läßt wenige Menschen neben sich bestehen. Dazu gehören zwei Polinnen aus seiner Zeit der Gefangenschaft, sein Lehrer Riebenlamm, sein ehemaliger Freund Gerd und Haiduck:

Es waren nur wenige, die sich über Robert Iswalls bald so genannten Hochmut hinwegsetzten oder ihn einfach nicht zur Kenntnis nahmen; Riebenlamm war dabei [...] und Haiduck, in dessen Augen man nicht gerne ein Affe sein mochte, und vor allen der unschlagbare Gerd Trullesand.9)

Haiduck wird früh im Roman als 1. Kreissekretär der SED eingeführt. Er ist lebhaft und unkonventionell und vor allem ein Feind des Dogmatismus. Es ist nicht klar, ob diese vehemente Verwerfung des Dogmatismus aus Haiducks Zeit als Interbrigadist stammt. Haiduck erringt sofort den Respekt der jungen studentischen Eiferer und macht ihnen schon bei ihrem ersten Zusammentreffen den Unterschied zwischen Wachsamkeit und Mißtrauen klar, d.h. er be kämpft die sprachlichen und konkreten Auswüchse des Stalinismus. Haiduck steht in Kontrast zu Robert Iswalls Stiefvater Nußbaum und dem Stalinisten Angelhoff, der die Geschicke der Arbeiter- und Bauernfakultät bestimmt. Haiduck wird zum großen Vorbild der vier jungen Studenten, aber er wird auch von anderen im Roman immer wieder als Autorität erwähnt oder zitiert. Robert Iswall sagt von Haiduck:

Um das zu erkennen, bedurfte es für Robert nicht erst der Begegnung mit dem Kreissekretär Haiduck, der in Spanien gewesen und durch Vernet und Dachau gegangen und so ein Kerl war, daß man ihm alles nachzuahmen suchte, selbst seine Sprechweise, ein Mann, der allen Gestalten der Spanienbücher sein Gesicht lieh und an den man dachte, wenn von Kommunisten die Rede war. (Ebd. S. 172)

Auch andere Personen im Roman beziehen sich auf die Autorität und das Vorbild Haiducks, so der Student Quasi Rieck (S. 223) und der Pastor Fangeltorn. (S. 271) Haiduck zeigt sich während der Zeit des stalinistischen Dogmatismus als Feind dogmatischer Phänomene. Im Roman wird das demonstriert, als Haiduck Robert Iswall eine Lektion erteilt, weil der ABF-Student Fiebach in den Westen gegangen ist. (S. 193 ff.) Auch in diesem Roman wird Haiduck gerade wegen seiner Spanienvergangenheit verdächtigt und verliert seinen Posten als 1. Kreisparteisekretär. Der Grund ist Abweichlertum:

Im Westen war ein Buch von einem Sozialdemokraten erschienen, und darin stand, Haiduck hätte im Lager mit dem Verfasser des Buches nächtelang diskutiert und dabei die Auffassung von einem besonderen deutschen Weg zum Sozialismus vertreten, im Bündnis zwar mit der Sowjetunion, aber in manchem doch anders als sie. Haiduck hätte einfach sagen können, das stimmt nicht, was der Mann da schreibt, aber lügen wollte er wohl nicht, und da ging das Getrommel los. Du weißt ja, wie das damals war. (Ebd. S.243)

Auch für Haiduck spielt das Problem der Träume und der Nichtverwirklichung eine entscheidende Rolle. Als der ABF-Student Jakob Filter mit Haiduck das Verschwinden des organisatorisch hochbegabten Mitstudenten Quasi Rieck diskutiert, kommt es zu folgender Szene, die Jakob Filter folgendermaßen beschreibt:

Er hat mich „Prometheus“ aufsagen lassen, und an der Stelle mit den Blütenträumen, die nicht alle reiften, hat er gesagt: „Aha, das meinte ich. Ich selbst kann’s nicht mehr auswendig, aber das Gedicht ist gut. Von diesem Goethe könnt ihr noch eine Menge lernen. Ich auch.“ Dann hat er „Versteh mal, Amigo“, zu mir gesagt und mich rausgeschoben, und ein paar Wochen später haben sie ihn wohl abgesetzt. Aber das war wegen dieser Geschichte mit dem besonderen deutschen Weg. (Ebd. S. 244f.)

Diese Textstelle, die den Leser aufruft, Prometheus zu Rate zu ziehen, bezieht sich speziell auf den Abschnitt

Wähnest du etwa,
Ich sollte das Leben hassen,
In Wüsten fliehen,
Weil nicht alle
Blütenträme reiften?

Das ganze Gedicht kann allerdings in diesem Kontext als eine kaum versteckte Attacke auf den Stalinismus und seinen Personenkult gesehen werden. Setzt Haiduck sich mit dem Ich des Gedichtes gleich, so sind der Grundtenor des Gedichtes und besonders einige Zeilen von großer Aussagekraft über Haiducks Verhältnis zur DDR, z.B.:


Ich kenne nichts Ärmeres
Unter der Sonn als euch, Götter

Oder:

Ich dich ehren? Wofür?
Hast du die Schmerzen gelindert
Je des Beladenen?

Für informierte DDR-Leser der Ankunftsliteratur wird sich auch eine Assoziation mit der damals aktuellen Diskussion um China und Maos Hundert-Blüten-Politik ergeben haben, der im nachhinein Tausende Chinesen zum Opfer fielen, obwohl sie 1957 als vermeintliche Toleranzpolitik begann: „The policy of letting a hundred flowers blossom and a hundred schools of thought contend is designed to promote the flourishing of the arts and the progress of science; it is designed to enable a socialist culture to thrive in our land.“10) In seiner Rede ging es Mao aber vor allem um Themen wie Dogmatismus, Abweichlertum und Wachsamkeit. Ulbricht unterstützte öffentlich Maos Terrormaßnahmen im „Neuen Deutschland“, obwohl die SU seit 1956 einen Reformkurs eingeschlagen und sich mit China verfeindet hatte.11)

Jakob Filter führt in seinem Bericht kurz Haiducks Lebensweg weiter und erwähnt, daß er jetzt Jahre später zweiter Sekretär der Bezirksleitung der SED in Thüringen ist.

Faßt man die hier behandelte Literatur zusammen, so ergibt sich, daß Autoren wie Anna Seghers offensichtlich sehr bewußt Interbrigadisten als geläuterte weise Figuren einführen. Diese Figuren haben alle einen weiteren Leidensweg im real existierenden Sozialismus durchmachen müssen. Mit der möglichen Ausnahme von Haiduck haben diese Menschen keine Heimat im Blochschen Sinne gefunden: Der Kontrast zwischen Traum/Idee und Realität ist nicht aufgehoben. Trotz ihrer Vorbildfunktion, die von Individuen im Alltag anerkannt wird, sind sie gesamtgesellschaftlich isoliert, ungewürdigt und abgewickelt. Das Spannungsverhältnis von spanischer Vergangenheit und real existierender sozialistischer Gegenwart ist nicht gelöst. Von Heimkehr kann nur bedingt gesprochen werden. Die literarische Funktion der Brigadisten in diesen Werken ist die des ideellen Kontrastes mit dem realen Alltag und dadurch implizite und explizite Kritik dieses Alltags. Diese Kritik bleibt systemimmanent. Keines der untersuchten Werke kommt zu dem Schluß, daß die gesellschaftlich-politisch-ideologischen Strukturen des real existierenden Sozialismus von vornherein eine Heimatfindung nicht ermöglichen konnten. Trotz der bitteren Schilderung des Daseins der Brigadisten bleibt der Grundton zukunftsorientiert optimistisch. Die Schilderung dieses Daseins unterstreicht auch das Fazit, das Feitknecht schon vor Jahren zog:

Wohl erscheint die DDR im Selbstverständnis der neueren Romane als sozialistische Heimat. Aber das Verhältnis dazu ist sehr viel komplizierter und differenzierter, als man meist offiziell wahrhaben will.12)

Abschließend sollen im Zusammenhang mit der Frage nach Exil und Heimkehr der Brigadisten nur kurz einige faktische Aspekte aufgezeigt werden. Es kann vorausgesetzt werden, daß diese Schriftsteller natürlich um das Schicksal von Spanienkämpfern in der DDR wußten, und vor allem von sogenannten Abweichlern. Der bekannteste Fall war und ist der Janka-Prozeß aus dem Jahre 1956. So kann hier durchaus von literarischer Verarbeitung gesprochen werden, was in sehr direktem Sinne besonders auf Der gerechte Richter zutrifft. Aber auch andere sehr bekannte Spanienkämpfer wurden im Stalinismus der DDR gemaßregelte Heimkehrer, so z.B. Anton Ackermann, Franz Dahlem, Willy Kreike-meyer, Gerhart Eisler und Wilhelm Zaisser. Nimmt man allerdings biographische Handbücher zur DDR als statistische Grundlage,13) so ergibt sich folgendes Bild: Von den 65Spa-nienkämpfern, die sich in diesen Handbüchern führender Persönlichkeiten der DDR finden, hatten 27 hohe Stellungen im militärischen Bereich inne, sei es bei der Polizei, der Armee oder dem MfS. Weitere 20 Kämpfer schlugen geradlinige Karrieren in der DDR ein. 16 arbeiteten als Schriftsteller ohne bekannte Schwierigkeiten. Auch in Anbetracht der Möglichkeit, daß viele ehemalige Spanienkämpfer in weitaus weniger öffentlichen Stellungen keine Genugtuung in ihrem Heimkehrerland fanden,14) kann die Schlußfolgerung gezogen werden, daß die Schriftsteller der Ankunftliteratur Spanienkämpfer vor allem als Symbolfiguren nahmen, um - wenngleich systemimmanent - Auswüchse des Stalinismus zu kritisieren.

Anmerkungen

1 Ernst Bloch, Gesamtausgabe, Das Prinzip Hoffnung, Bd. 5, Suhrkamp, Frankfurt/M., S. 162
2 Anna Seghers, ,Der Führer‘ in: Die Kraft der Schwachen, Aufbau, Berlin 1965, S. 29-45. Zum Verhältnis von Opfer und Neuanfang, Vergangenheit und Gegenwart cf. den ersten Teil von Sonja Hilzingers Aufsatz ,Opfer, Täter und Richter‘: Versuch einer Annäherung an die Novelle „Der gerechte Richter“, in Argonautenschiff: Jahrbuch der Anna-Seghers-Gesellschaft 1/1992, S. 50-64.
3 In: Inge Stephan, Sigrid Weigel, Kerstin Wilhelms, hg., „Wen kümmert’s, wer spricht.“ Zur Literaturgeschichte von Frauen aus Ost und West, Böhlau, Köln/Wien 1991, S.195-210.
4 Walter Janka, Schwierigkeiten mit der Wahrheit, Rowohlt, Reinbek 1989, Walter Janka, Spuren eines Lebens, Rowohlt, Berlin 1991, Brigitte Hoeft, hg., Der Prozeß gegen Walter Janka und andere, Rowohlt, Reinbek 1990, J. K. A. Thomaneck, Anna Seghers and the Janka Trial: A Case Study in Intellectual Obfuscation, in German Life and Letters 66 (1993), S. 156-161.
5 Anna Seghers, Der gerechte Richter, Aufbau, Berlin 1990, S. 7 und 26. Zum Thema Offenheit und Vertrauen cf. J. K. A. Thomaneck, The Iceberg in Anna Seghers’ Novel Überfahrt, in German Life and Letters 28 (1974), S. 36-45. Der gerechte Richter wurde 1957/58 geschrieben.
6 Fritz Rudolf Fries, Der Weg nach Oobliadooh, Suhrkamp, Frankfurt/M. 1975, S. 155f. Der Roman erschien zuerst 1966.
7 Brigitte Reimann, Franziska Linkerhand, dtv, München 1977, S. 48. Der Roman erschien zuerst 1974.
8 Ullrich Plenzdorf, Die neuen Leiden des jungen W., Suhrkamp, Frankfurt/M. 1976, S. 28. Die Erzählung erschien 1973.
9 Hermann Kant, Die Aula, Fischer, Frankfurt/M. 1968, S. 282. Der Roman erschien zuerst 1965.
10Mao Tse-tung. On the correct handling of contradictions among the people, Central Books, London 1957, S.10.
11Rüdiger Machetzki, China und das andere Deutschland, in: R. Machetzki, hg., Deutsch-Chinesische Beziehungen: Ein Handbuch, Institut für Asienkunde, Hamburg 1982, S.145-154, S. 148.
12Thomas Feitknecht, Die sozialistische Heimat, Lang, Bern/Frankfurt/M. 1971, S. 84.
13Der Band SBZ von 1945 (hg. vom Bundesministerium für Gesamtdeutsche Fragen, Bonn/Berlin 1956) gibt Auskunft über führende Persönlichkeiten der DDR bis 1954. Der Band Schriftsteller der Deutschen Demokratischen Republik (VEB Verlag für Buch- und Bibliothekswesen Leipzig, Leipzig 1961) gibt Auskunft bis zur Ankunftliteratur. Weiterhin wurde benutzt Andreas Herbst, Winfried Ranke, Jürgen Winkler (Hrg.), So funktionierte die DDR, Bd. 3: Lexikon der Funktionäre, Rowohlt, Reinbek 1994.
14cf. die Bildreportage im Zeit-Magazin vom 12. Juli 1996.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 1/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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