Rezension

 

Welt und Gabe des Vladimir N.

Boris Nossik: Nabokov - Die Biographie

Aufbau-Verlag, Berlin 1997, 462 S.

 

Zu DDR-Zeiten war, kurz vor der Wende, in der gediegenen ex libris-Reihe des Verlages Volk und Welt noch das bedeutendste Werk Vladimir Nabokovs erschienen: Lolita, im Waschzettel vorgestellt als „einer der bewahrenswertesten psychologisch-erotischen Romane unseres Jahrhunderts“. Nun also im ebenfalls aus DDR-Zeiten gut bekannten, heute wieder erfolgreichen Aufbau-Verlag die Biographie des am 23. April 1899 in Petersburg geborenen, am 2. Juli 1977 in Montreux gestorbenen „Lolita“-Autors. Aus ihrem russischen Originaltitel Mir i Dar Nabokova ( Die Welt und die Gabe Nabokovs) in der deutschen Übersetzung Nabokov - Die Biographie gemacht zu haben, erscheint zunächst etwas anmaßend. Bemerkt doch ihr Verfasser, der aus Minsk stammende, heute in Paris lebende Boris Nossik, die Schwierigkeit beim Schreiben seines Buches habe darin bestanden, daß es über Nabokov schon Tausende Seiten biographischer Texte - nicht zuletzt von Nabokov selbst - gibt. Nossik betont aber auch, daß es ihm darum geht, über Nabokov aus heutiger russischer Sicht zu schreiben, weil Nabokov „Rußland gewaltsam weggenommen wurde - zusammen mit seiner Welt und der gesamten Emigrantenliteratur. Daher habe ich den Wunsch, daß Weggenommene zurückzugeben“. (S. 10)

Weggenommen - das wird in den ersten Kapiteln der Biographie deutlich - hat erst einmal die Revolution der Bolschewiki den Nabokovs und ihren Kreisen Reichtum und Privilegien, geistige und auch physische Freiheit. Vladimir Nabokovs Großvater war zaristischer Justizminister, der Vater ein aristokratischer Intellektueller, Mitbegründer der Konstitutionell-Demokratischen Partei (Kadetten). Sohn Vladimir ist schon mit 17 Jahren ein reicher Mann, hat er doch Villa und Vermögen seines Onkels geerbt. Nach der Oktoberrevolution flieht die Familie aus Petersburg, zuerst auf die Krim, und als dorthin die Rote Armee kommt, über Konstantinopel nach England. Nossik schildert, wie der junge Nabokov als Student in Cambridge aus dem Fenster seines Zimmers ein Liebespaar erblickt. „Und plötzlich schien ihm, daß sie leise russisch sprechen ... Wie auch andere Emigranten nennt er den Gegenstand seiner Liebe: Rußland. Die russische Sprache. Die russische Landschaft. Die russische Poesie.“ (S. 84) Dabei war Nabokov von englischen Kindermädchen und französischen Gouvernanten erzogen worden, hatte er Englisch früher als Russisch schreiben gelernt, wurde im Petersburger Elternhaus neben Russisch abwechselnd das „häusliche Englisch“ und das „intime Französisch“ (S. 36) gesprochen. Weltläufigkeit und Heimatliebe, das macht die Biographie deutlich, vereinen sich in Leben und Werk Nabokovs, eines - wie Nossik zeigt - gleichermaßen talentierten wie egozentrischen Menschen. Seine Liebe zur Heimat ist tragisch gefärbt durch den - so scheint es oft - übersteigerten Haß auf ihre neuen Herrscher. Schon bei seiner „ersten und letzten politischen Rede“, als Student in Cambridge, charakterisierte Nabokov „den Bolschewismus ... als widerliche Krankheit. Lenin sei ein Wahnsinniger und die übrigen seien Lumpen ... England müsse unverzüglich Koltschak und Denikin unterstützen.“ (S. 86) Und zum 10. Jahrestag der Oktoberrevolution schrieb er in „einer seiner seltenen politischen Wortmeldungen“: „Ich verachte den kommunistischen Glauben als eine Idee niedriger Gleichheit, ... als einen dummen Anschlag auf mein freies Ich.“ (S. 175)

Von 1922 bis 1937 lebte Nabokov in Berlin. Er war seinen Eltern gefolgt, die schon ein Jahr früher hierher gekommen waren, in die „Stiefmutter der russischen Städte“, wie Nossik Berlin wegen der vielen in den zwanziger Jahren hier lebenden Russen nennt. „Berlin lag am Weg von Rußland nach dem Westen und vom Westen zurück nach Rußland.“ (S. 116) Nabokovs Vater gab hier die russische Emigrantenzeitschrift „Rul“ heraus. Im März 1922 wurde er Opfer eines Attentats monarchistischer Emigrantenkreise, das eigentlich seinem Freund Miljukow gegolten hatte. Das Verhältnis zum Vater, den er verehrte wie kaum einen anderen Menschen, die Reaktion auf das Attentat nehmen großen Raum in Nossiks Nabokov-Biographie ein. „Du lebst, beschwor er den Vater in seinen Gedichten und später auch in jedem Roman.“ (S. 112) Vor allem dem Berliner Leser wird auffallen, wie blaß und farblos, gleichsam ohne Lokalkolorit, Berlin bei Nossik erscheint. Wie farbig und detailreich dagegen werden später Paris, wo Nabokov von 1937 bis 1940 lebte, und seine amerikanischen Aufenthaltsorte geschildert. Der 26jährige Vladimir heiratet seine Vera „im Rathaus“ - als ob es nur eines in Berlin gegeben hätte. Folgt man Nossik, verkehrte Nabokov ausschließlich in Kreisen russischer Emigranten. Schwer vorstellbar, daß der Kunstfreund Nabokov dem Kulturleben Berlins Abstinenz gezeigt, keine Bekannten unter deutschen Schriftstellern und Künstlern hatte. In Nossiks Sicht erscheint Berlin Nabokov als „ungeliebte und häßliche Stadt“. (S. 122) Trotzdem, so Nossik, seien die Berliner Jahre „vielleicht seine glücklichsten - in kreativer Hinsicht“ gewesen. (S. 200)

In den meisten Nachschlagewerken beginnt die Aufzählung Nabokovscher Werke erst mit seinem 1954 in den USA geschriebenem Roman Lolita. (Liegt es daran, daß Nabokov vor seiner Übersiedlung nach Amerika unter dem Pseudonym Sirin publizierte?) Wenn es eine Berechtigung gibt, Nossiks Buch als d i e Biographie zu bezeichnen, so besteht sie für mich darin, daß er in ihr eine gründliche Analyse des literarischen Schaffens Nabokovs, auch vor Lolita, gibt, wobei er sich auf eine Äußerung Nabokovs beruft, daß die Biographie eines Schriftstellers „vor allem die Geschichte seiner Werke“ ist. (S. 200) Unter den frühen Prosawerken Nabokovs widmet Nossik dem 1930 erschienenen Roman Lushins Verteidigung breite Aufmerksamkeit. Er sieht in ihm nicht nur die brillant erzählte Geschichte eines Schachspielers (Schach war neben der Beschäftigung mit Schmetterlingen das Lieblingshobby Nabokovs), sondern einen „Roman über die Kreativität schlechthin“. (S.189) Der gleichfalls 1930 geschriebene Roman Die Mutprobe enthalte mehr Autobiographisches als Nabokovs Autobiographie Erinnerung sprich aus dem Jahre 1967. In der Einladung zur Enthauptung, 1935 erschienen, sieht er eine Art Parabel auf die Sowjetgesellschaft „in der das Individuum nur existiert, solange es irgendeine soziale Funktion erfüllt“ und „derjenige ein innerer Emigrant“ sei, „der sich weigert, die Generallinie anzuerkennen“ und die bestehende Ordnung „nicht als einzige Realität akzeptiert“. (S. 254) Den als „erstaunlich poetisch und spannend“ bezeichneten Roman Die Gabe, die 1938 fertiggeschriebene Geschichte eines russischen Exilschriftstellers, feiert Nossik überschwenglich als „Gipfel der russischen Prosa des 20. Jahrhunderts“. (S. 286) Wobei anzumerken wäre, daß solche und ähnliche Wertungen der russischen (und sowjetischen) Literatur, von denen man nicht recht weiß, ob sie von Nossik oder von Nabokov stammen, sicher nicht allgemein geteilt werden. So, wenn behauptet wird, daß seit Tschernyschewski „das Utilitätsprinzip das Schöne aus der russischen Literatur zu verdrängen begann“, die sich „schließlich in die subalterne sowjetische Literatur verwandelte“. (S. 291) Oder wenn Alexej Tolstoi und Leonid Leonow als „primitiv“ bezeichnet, Maxim Gorki „Fußtritte versetzt“, Scholochows Stiller Don oder die Werke Granins und Tendrjakows nicht einmal der Erwähnung für würdig befunden werden. Ebenso verblüfft ist man manchmal über das Geschichtsbild Nossiks, der offenbar die Totalitarismusdoktrin unkritisch übernommen hat und sie bis zur Gleichsetzung von Sowjetkommunismus und Hitlerfaschismus betreibt.

Um endlich auf Lolita zu kommen: Nossik nennt Nabokovs erfolgreichstes Buch einen „Roman über die Liebe, aber auch über die Vulgarität - die amerikanische Motel-Zivilisation ist hier nicht weniger bissig dargestellt als die Welt der deutschen Vulgarität oder die der Emigranten in den frühen Romanen. Es ist ein erotisches Buch. Die Liebhaber von hartem Sex werden wohl ein wenig enttäuscht sein von der Anständigkeit des Buches.“ (S.355) Die Vorgeschichte zu diesem Roman durchzieht gleichsam die ganze Biographie. Das Vorbild für die verführerische „Kindfrau“ sieht Nossik in Dutzenden Frauen, die Nabokov geliebt, gekannt oder von denen er auch nur gehört hat: zurück bis zu seiner ersten Liebe Valja Schulgina, der „zierlichen Petersburger Schülerin“ (S. 56/57), ja bis zur Urgroßmutter Nina Korff, einer „leidenschaftlichen Frau“ mit „zu tief ausgeschnittenen Kleidern“. (S.18)

Aus der Nach-Lolita-Zeit hebt Nossik den 1957 in den USA geschriebenen Roman Pnin hervor, die Geschichte eines „sonderbaren, verschrobenen, rührenden russischen Intellektuellen in der wohlwollenden, doch unbegreiflichen Umgebung der amerikanischen Universität“. (S. 360) Offenbar auch wieder ein autobiographisch gefärbtes Buch, hatte doch Nabokov vor seinem Erfolg mit Lolita eine Zeitlang Vorlesungen über russische Sprache und Literatur am Wellesley-College gehalten. Den folgenden Roman Fahles Feuer, der von „Zembla“, einem „Land nördlich von Rußland ... und dessen Monarchen erzählt“ (S. 387), nennt Nossik „vielleicht eines der originellsten Werke der Weltliteratur“. (S. 372) Besonders neugierig dürfte Nossik seine Leser auf Nabokovs „gewaltigsten Roman“, den „Gipfel seines Schaffens“, machen: Ada oder das Verlangen (1969, deutsch 1974 erschienen). Eine Art phantastischer Roman, der auf einem Planeten Antiterra, im Land Estoty spielt, das Züge des modernen Amerika wie des alten, vorrevolutionären Rußland trägt, ein Roman, der „noch mehr Erotik als die vorangegangenen Bücher Nabokovs“ enthalte. (S. 404) Dieses Buch hat Nabokov schon in Montreux, seiner letzten Lebensstation, geschrieben. Nossik schildert, wie ihn hier in der Schweiz, genauer beim Schmetterlingsjagen in Zermatt, Reporter der BBC fragen, ob er nicht nach Rußland zurückkehren wolle. „,Ich werde nicht zurückkehren‘ antwortete er, ,aus dem einfachen Grund, daß ich jenes Rußland, das ich brauche, immer bei mir habe: die Literatur, die Sprache und meine eigene russische Kindheit‘.“ (S. 391)

Ob man Nossiks Arbeit nun für d i e Biographie Nabokovs hält oder nicht, ob man seine Sicht auf Geschichte und Politik teilt oder sie ablehnt - das Buch regt auf jeden Fall an, sich näher mit dem Werk dieses wohl ebenso genialen wie eigenwilligen Meisters russischer Exilliteratur zu beschäftigen. Das erleichtern sicher auch die umfangreichen Quellenangaben und Anmerkungen sowie das ausführliche Personenregister. Schade dagegen, daß im Bildteil nur Fotos aus den letzten Lebensjahren Nabokovs in Montreux Platz fanden.

Horst Wagner


© Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

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