Rezension

 

Verschleppung in ein zerstörtes Land

Freya Klier: „Verschleppt bis ans Ende der Welt“ - Schicksale deutscher Frauen in sowjetischen Arbeitslagern

Ullstein Verlag, Berlin 1996, 351 S.

 

Das Buch ist ein Buch gegen den Krieg. Klar und kompromißlos nimmt die Autorin Stellung gegen die durch Nazi-Deutschland verursachten Verbrechen und die daraus resultierenden leidvollen Folgen für Tausende diesem Kampf ausgelieferte Menschen. Die Frauen in diesem Buch sind unschuldige Opfer eines erbarmungslosen Vernichtungsfeldzuges der deutschen Wehrmacht - eines ebenso erbarmungslosen Zurückschlagens durch die Rote Armee.

Am 1. Februar 1945 schreibt die Rotarmistin Nina Demidowa aus Ostpreußen nach Hause: „Von den Deutschen sind nur noch Greise und Kinder da, junge Frauen wenig, und auch die werden totgeschlagen. Überhaupt, was hier geschieht, das läßt sich weder sagen noch beschreiben ...“ Der Brief ist eines der wenigen sowjetischen Zeugnisse, die Auskunft geben über den Umgang der Soldaten mit der feindlichen Zivilbevölkerung.

Erklärtermaßen geht es Freya Klier nicht darum, die Toten aufzurechnen und Opfer zu klassifizieren. Ihre Dokumentation holt die Frauen, die am Ende des Zweiten Weltkrieges (viele als junge Mädchen) in die Sowjetunion verschleppt wurden und in Lagern die deutsche Kriegsschuld abarbeiteten, aus der Jahrzehnte währenden Tabuisierung. Über sie, „die diesen Krieg weder anzettelten noch führten, ihn aber mit ihrer Gesundheit oder dem Leben bezahlen mußten“, existieren wenig biographische Unterlagen. „Im Osten durften sie nicht erwähnt werden, im Westen fielen sie dem Lagergefecht der Generationen zum Opfer: hier eine Wehrmachtsgeneration, die bevorzugt auf russische Greueltaten verwies, um die eigenen zu schmälern, dort deren Kinder, die aus ihrem Wohlbehütetsein heraus das Leid ihrer Mütter als ,Strafe für Auschwitz‘ wegwischten. Ein Gefecht, das die Deportations- und Vergewaltigungsopfer endgültig verstummen ließ.“

11 Frauen erzählen nun ihr Leben.

Gertrud K. ist im Januar 1945 15 Jahre alt. Aus Insterburg in Ostpreußen nach Westen flüchtend, kommt ihre Familie im Dorf Gubitten unter. Am 12. und 13. Januar beginnt die Großoffensive der Roten Armee und treibt sowohl die Wehrmacht als auch Zivilbevölkerung vor sich her. Die Flüchtenden berichten von Greueltaten in Nemmersdorf, Goldap und Ebenrode: „Frauen habe man nackt an Leiterwagen und Scheunentore genagelt vorgefunfen ... Häuser und Scheunen lagen voller toter Frauen und Kinder - manche mit Genickschuß, die meisten bestialisch ermordet ... Köpfe, die mit der Axt gespalten waren. Nemmersdorf (...) soll keine Überlebenden mehr aufgewiesen haben, und sämtliche Frauen und Mädchen habe man vor ihrem Tod vergewaltigt.“ Panik und weiter in Richtung Westen. Die K. kommen in einem Gehöft unter, „und dann bekamen wir die ersten Sowjets zu Gesicht, urplötzlich waren sie da. Sie wirkten auf uns wie Wesen von einem anderen Stern.“ Gertrud K. hört die ersten russischen Worte: Uhri, Uhri (Uhren) und „Frau komm“. „Jeweils immer nur eine Frau wurde in einen Nebenraum geführt; wenn die dann herauskam, mußte die nächste rein.“ Ihre Mutter weigert sich trotz MP-Lauf unterm Kinn. Verblüfft von soviel Courage, läßt der Rotarmist sie in Ruhe. „Nun zog er mich am Arm in diesen verdammten Raum. Ich stieß in der Dunkelheit gegen einen großen Tisch. (...) Ich hörte, daß er sich an seiner Hose zu schaffen machte, ein ekelerregender Geruch ging von ihm aus. Sein Vorhaben, mir die Motorradhose meines Vaters vom Leibe zu reißen, mißlang, da ich mich in Todesangst mit Armen und Beinen zur Wehr setzte.“ Die wenigsten Frauen jedoch kommen „nur“ mit dem Schreck davon - die meisten von ihnen geraten nach Vergewaltigung und Trennung von Eltern und Verwandten in Sammellager. Gertrud K. in das Lager Insterburg. Von dort gehen die Züge nach Rußland. Nach 3wöchiger Fahrt in Kälte, Hunger, Krankheit kommt sie in Karpinsk/Sibirien an.

Die sogenannten „lebenden Reparationen“ werden in großen Massen zusammengestellt. In Nord-Ostpreußen, das durch die Truppen der 3. Belorussischen Front unter Armeegeneral Tschernjakowski besetzt ist, wird Insterburg zum Hauptlager. Knapp 47 000 Zivilisten werden hier durchgeschleust. In insgesamt 22 Massentransporten Richtung Ural verfrachtet. Verluste sind einkalkuliert. Die Frauen und Mädchen sterben an der Ruhr, an Entkräftung. Die Züge sind Gespensterzüge. Der Tod schafft immer wieder Platz für die noch Lebenden.

Ganz gewiß haben die wenigsten der Frauen solche Reisegedanken, wie die 16jährige Eva-Maria S., die zigmal vergewaltigt, mit schwerem Rheuma, ebenfalls Richtung Sowjetunion fährt und „nur noch verbrannte Erde, zerstörte Dörfer, gesprengte Fabriken (sieht)... es war so, als wären auch noch die Bäume verbrannt. Als ich das sah, und das nahm gar kein Ende, da fiel mir mein Cousin ein, was der bei uns zu Hause von Polen erzählt hat ... Die haben da unten in Galizien Partisanen gejagt. Da hat man in irgendeinem Dorf alle Männer und Frauen zusammengetrieben und das ganze Dorf eingeäschert.“

Irgendwann war die Fahrt zu Ende. Ankunft im Ungewissen. Die damals 16jährige Rimma Pawlowna ist Augenzeugin der Ankunft eines Transportes im Bergbaugebiet Stalinsk. Sie erinnert sich: „Zunächst hieß es nur: In den Waggons sind Deutsche. Wir staunten nicht schlecht, als da plötzlich Frauen drin waren ... Vor allem in den ersten Monaten nach der Ankunft muß eine große Sterblichkeit geherrscht haben, das war ja eine sehr schwere Zeit. Und so war der Birkenwald bald voller Massengräber, aber das war streng geheim, da wußte niemand genau, wo die waren ... Später sagten die Einheimischen immer: ,Sammelt keine Pilzen in diesem Waldstück, da sind die Massengräber der Deutschen!‘“

Das erste Jahr ist das „Höllenjahr“. Die hohe Sterblichkeit ist nun nicht mehr die Folge von Grausamkeiten - Vergewaltigung und Brutalitäten sind jetzt verboten -, sondern einer unzureichenden Ernährung bei schwerster körperlicher Arbeit. Ärzte fehlen hier und Medikamente. In den Lagern ist die Situation so wie im ganzen Land. Die Frauen sind über die riesige Sowjetunion verteilt. Kaum eine von ihnen wird die kommenden Jahre an ein und demselben Ort verbringen. Eva-Maria S. durchläuft in viereinhalbjähriger Gefangenschaft mehrere Lager. Vom Totengräber bis zur Traktoristin macht sie alle Arbeiten. Noch vor dem Abtransport hat ihr eine Russin gesagt: Mädchen, wenn du Sibirien überleben willst, mußt du fleißig arbeiten und die Sprache lernen. Einmal, da war sie schon in Leninsk und arbeitete beim Wohnungsbau, als der Mann an der Betonmischmaschine ausfiel. Ohne Zögern meldete sie sich zu der Arbeit und erlangt dadurch „ein ungeheures Privileg: Ich konnte ein bißchen herumlaufen und meine Russisch-Kenntnisse zur Anwendung bringen ... Ich kam mit einer älteren Frau ins Tauschgeschäft“ - für Bruchholz von der Baustelle erhält Eva-Maria Essensreste. Bei manchen solcher zufälligen Begegnungen entsteht menschliche Wärme, Mitgefühl zum Beispiel mit den vielen elternlosen Kindern.

So vergehen Tage, Monate, Jahre. Keine weiß, wann und ob sie überhaupt zurückkehrt. Weihnachten in Trauer und Tränen. Die ersten Karten nach zu Hause, 25Worte. Krankheit und Arbeitsunfälle mit lebenslangen Folgen. Aber, so Annemarie M., die Zeit hat eigene Gesetze. Je mehr sie vergeht, desto mehr entfernt man sich von dem, was war. Das Dasein „wurde nun ein Überlebenskampf, da mußte man seine Gefühle verdrängen, sonst war man verloren“.

Helga P. wird im Lager Sugreß im Ural einen jungen Zivilisten aus Polen kennenlernen. Zum ersten Mal verliebt, „da ist es dann halt passiert, ich wurde schwanger“. Am 23.Dezember 1950 kommt ihre Tochter in Brest-Litowsk zur Welt. Am 19. Mai 1952 wird ihr mitgeteilt, daß sie am nächsten Tag nach Hause fahren kann.

Sie kommt in der DDR an. Im Zug nach Berlin „saßen junge Leute in blauen Blusen, die begeistert ,Bau auf, bau auf, freie deutsche Jugend bau auf‘ sangen. Dazu ich, in Wattejacke und Schlosserhose ... Meine Eltern wußten nichts von meiner Ankunft. Als ich klingelte, kam meine Mutter raus, sah mich an und schrie laut auf.“ Ihr Vater wird sie nicht erkennen. Ihr Mann kommt einen Tag nach ihr an. Sie beginnen ihr neues Leben. Von Rußland und Verschleppung ist darin kein Platz. Beide arbeiten bei den Berliner Verkehrsbetrieben. Helga ist öfter krank. Aber sie verkraftet das alles, solange die Familie hält. Schlimm wird es, als ihr Mann sie nach 22 Jahren verläßt. Das verwindet sie nicht. 1989 siedelt sie nach Westberlin über, erhält eine Rente. 1994 stirbt ihre im Lager geborene Tochter, erst 43Jahre alt.

Kaum eine von den Heimkehrerinnen wird ein glückliches Leben haben. Ob Ost oder West - von dem Leid der Frauen will keiner wissen. Charlotte S. trifft im August 1948 in der amerikanischen Besatzungszone ein. Sie findet ihre Eltern, Arbeit, einen Mann. 1956 bekommt sie als Entschädigung 600 Mark. Sie zieht 4 Kinder groß. Alles scheint in Ordnung, „doch meine Seele kam dabei nicht zur Ruhe“. Das Schweigegebot über diese „Schande“, Abwehr und Unverständnis bis hin zu den Kindern - das Trauma ist geblieben. „Nein, ich kann nicht sagen, daß wir verschleppten und geschändeten Frauen hier im Westen auf Verständnis gestoßen sind.“

Unter ein Photo mit Frauen, die aus russischer Gefangenschaft zurückgekehrt sind, schreibt Charlotte einen Satz: Was wißt ihr schon!

Burga Kalinowski


© Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

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