Rezension

 

Analytiker der russischen Wirtschaft

Grigorij Jawlinski: Das neue Rußland - Demokratische Reformen als letzte Chance

Goldmann Verlag, München 1996, 249 S.

 

Erstmals wird nach 1990 ein russisches Parteiprogramm in deutscher Sprache vorgestellt: JABLOKO Schon einmal war ich in Nishni Nowgorod gelandet, damals, als es noch Gorki hieß; Anfang der achtziger Jahre. Wegen eines technischen Defektes mußte die Iljuschin auf dem Rückflug aus Sibirien auf dem Flugfeld niedergehen. Wir ausländischen Journalisten wurden für acht Stunden „einquartiert“ im „Deputatskaja“, dem Zimmer für die Abgeordneten des Obersten Sowjets, die, aus entlegenen Regionen kommend, sich hier versammelten, um gemeinsam nach Moskau zu fliegen. Den Gang zur Toilette durfte man nur mit dem Begleiter vom MID, dem Abgesandten der Presseabteilung des Außenmi nisteriums, antreten, denn Gorki war eine „geschlossene Stadt“, für Ausländer verboten; hier lagen das Zentrum der sowjetischen Rüstungsindustrie und Arsamas-16 in der Nähe, Ort des ersten Atombombenbaus und damals Produktionsbasis für Atomsprengköpfe.

Als ich 1995 beim Erstflug der Lufthansa von Frankfurt/Main nach Nishni Nowgorod kam (heute schickt die Fluggesellschaft wöchentlich einmal eine Maschine dorthin), wurde ich mit praktischen Beispielen neuer Wirtschaftspolitik konfrontiert, die zusammen mit dem Namen Grigorij Jawlinski genannt werden.

Boris Nemzow, der damalige Gouverneur, inzwischen Vizepremier der Russischen Föderation, erklärte mir in einem Pressegespräch: „Sie kennen den Spruch: Rußland ist groß, und der Zar ist weit ... Diese alte russische Weisheit machen wir uns dienstbar. Für unser Gouvernement ist es wichtig Wege zu finden, die Macht zwischen Zentrale und Regionen zu teilen und die Verantwortung für unsere Region (ein Areal größer als Belgien - G. W.) wahrzunehmen. Für unser Gouvernement nahmen wir eine eigene Preisgestaltung vor, privatisierten nach unseren Vorstellungen und entwickelten eigene Sozialprogramme - auf der Grundlage einer exakten Analyse der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Lage in den einheimischen Gebieten.“

Diese Untersuchungen und Vorschläge zur Überwindung der russischen Krise stammen von Grigorij Jawlinski und seinen Mitarbeitern vom Zentrum für politische Bildung und ökonomische Forschungen (EPIzentr).

Das Pilotprojekt Jawlinskis zielt - angesichts der schwerwiegenden sozialen wie wirtschaftlichen Probleme des Landes - auf eine geregelte Einführung marktwirtschaftlicher Mechanismen bei hoher Inflationsrate. Vor allem geht es um die Aufspaltung der Industriegiganten in mehrere Teile. Zu allen Monopolen gehört ein riesiges Netz von sozialen Einrichtungen, die z. T. achtzig Prozent der Einnahmen „verschluckten“. Durch erfolgreiche strukturelle Umgestaltung entstanden neue Dienstleistungsstätten: Wohnungsverwaltungen, Ärztehäuser, Kindertagesstätten, Bildungsinstitute, Versorgungsbetriebe, Handelseinrichtungen usw. Dieses „Reform-Projekt von unten“ gilt für viele Insider als gangbarer Weg aus der sozialistischen Planwirtschaft in die Pivatisierung von Handels- und Dienstleistungsbereichen.

In Nishni Nowgorod sah ich im Frühjahr 1995 - anders als in anderen Regionen des Landes - sichtbare Veränderungen: auf den Straßen Händler mit einheimischen (!) Produkten; in den Läden neben ausländischen eben russische Waren; ein breites Lebensmittelangebot; keine Bettler an allen Ecken. Die Stimmung der Menschen schien locker und weniger gedrückt.

In seinem jüngsten Buch Das neue Rußland - Demokratische Reformen als letzte Chance sind die programmatischen Zielvorstellungen Jawlinskis, des Vorsitzenden des JABLOKO-Blocks der Staatsduma, zusammengefaßt. Erstmals liegt damit in deutscher Sprache die gesamte Programmatik einer russischen Reformpartei vor (ein Programm einer anderen russischen Partei ist m. E. zumindest nicht in Buchform erschienen), die alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens im Lande erfaßt und Lösungsvorschläge für die Hauptprobleme darlegt. „Rußland steht am Scheideweg“, schreibt Jawlinski im Vorwort vor Beginn der Präsidentenwahlen, „entweder entwickeln wir uns in Richtung Demokratie und Marktwirtschaft oder in Richtung eines kriminellen Staates mit hypermanipulierten politischen Strukturen auf der Basis eines oligarchischen Herrschaftssystems.“ (S. 15)

Der JABLOKO-Block war 1993 als politische Bewegung gegründet worden von Jawlinski (1990/91 mit Jelzins Unterstützung schon einmal stellvertretender Ministerpräsident), von Juri Boldyrew (später aus dem Block ausgeschieden), einst Staatsinspektor gegen Korruption, und von Wladimir Lukin, ehemaliger Botschafter in den USA. Der Name JABLOKO setzt sich aus mehreren Buchstaben der Gründernamen zusammen und bedeutet auf deutsch Apfel, was im Russischen wie im Deutschen ja sehr angenehm klingt.

„Es war uns sehr wichtig“, betont Jawlinski, „Menschen um die dreißig, vierzig Jahre in einem Team zusammenzufassen, denen die Werte Demokratie am meisten am Herzen lagen: Menschenrechte, demokratische Verfahrensweisen, Privateigentum, Unabhängigkeit des einzelnen, Pressefreiheit.“ (S. 8)

In diesem Sinne formierte sich die politische Bewegung, und Jawlinski gesteht: „Wir hatten leider nicht die Möglichkeit, unsere Partei so zu benennen, wie wir es wollten, nämlich als liberale demokratische Partei, denn die Liberal-Demokratische Partei ist die Partei der russischen Nationalisten Schirinowskis.“ (S. 10) Der Sammlungsbewegung geht es um Reformen für die Mehrheit und nicht um Reformen für eine Minderheit, bei denen sich fünf Prozent eine goldene Nase auf Kosten der restlichen 95 Prozent verdienen.

Das Programm von JABLOKO, das hier auf über 200 Seiten vorgestellt wird, hat drei Bestandteile:

1. Die Deklaration zu den Präsidentschaftswahlen 1996, bei denen Jawlinski hinter Jelzin, Sjuganow und Lebed den doch enttäuschenden vierten Platz belegte. Auf diesen Seiten des Programms werden die politischen Ziele und Prinzipien des Blocks dargelegt; man grenzt sich ab von den Herrschaftsmethoden von Zar Boris; kritisiert die Radikalreformer vom Schlage Gaidars, die „zur Verelendung der Massen, Anwachsen der Kriminalität, Spaltung der Gesellschaft in Arm und Reich“ beigetragen haben, und betrachtet die Kommunisten als politische Gegner („Wir wollen verhindern, daß sie in Rußland die Macht erringen. Aber Grundlage unserer Politik wird niemals der Antikommunismus sein.“) (S. 19)

Jawlinski hatte im Vorfeld der Präsidentenwahlen nicht verstanden, sich mit anderen politischen Gruppierungen zu verständigen. Er wollte die Macht nicht teilen, Koalitionen schienen ihm nicht opportun zu sein. Allein mit der Orientierung auf eine neue russische Mittelklasse (Ingenieure, Ärzte, Beamte, Werktätige aus dem Handels- und Dienstleistungssektor) konnte er nicht gewinnen.

2. Politische Plattform. Diese Analyse der zurückliegenden Etappen über Gorbatschows Perestroika, die Schocktherapie Gaidars und den Tschetschenienkrieg Jelzins kann auch von vielen seiner politischen Gegner geteilt werden. JABLOKO kommt zu dem Schluß: „Die Macht ist auf allen Ebenen von den Krebsgeschwüren einer ausufernden Bürokratie, von Clans und Lobbyistenclubs überwuchert. Sie sind der Nährboden für eine blühende Korruption und das organisierte Verbrechen. Die Verschmelzung von Mafia und Staatsorganen schreitet munter voran.“ (S. 41) Und: „Was sich heute in unserem Lande abspielt, gleicht immer mehr dem ,wilden‘ Kapitalismus, den die entwickelten Länder vor hundert oder zweihundert Jahren erlebt haben. Um die Aufteilung von Einflußsphären, den Zugang zu den Naturschätzen und zum Staatseigentum wird erbittert und blutig gerungen ... Der politische Bürger bleibt bei der rücksichtslosen Aufteilung des Kuchens außen vor.“ (S. 42)

Aus der Lageeinschätzung wird das Programm bis zum Jahr 2000 entwickelt. Es berührt die Bereiche Staatsaufbau, Verfassung, Stellung des Präsidenten („Für die Zukunft schließen wir nicht aus, daß Rußland zu einem Modell gelangt, in dem der Präsident lediglich die Funktion des Staatsoberhauptes ausübt und die gesamte exekutive Gewalt an die Regierung übergeht, die sich auf eine Mehrheit in der Duma stützt“ - S. 46), dann die Bereiche Justizwesen, Wahlsystem, Medienpolitik, Föderation („Die Einheit Rußlands kann nur gesichert werden, wenn eine konsequente Dezentralisierung der Staatsmacht erfolgt, die zwischen der Föderation und ihren Subjekten aufzuteilen ist.“ - S. 53), weiter die Bereiche lokale Selbstverwaltung, Nationalitätenpolitik, Außenpolitik, Militärreform, Kriminalität („Die Kriminalität ist eine schwere Krankheit, an der die ganze Gesellschaft leidet. Wenn wir sie heilen wollen, sind sowohl chirurgische Eingriffe als auch eine Langzeittherapie für den gesamten Organismus unumgänglich“ - S. 81), sowie die Bereiche Ökologie, Kultur, Bildung, Wissenschaft und Gesundheitswesen.

3. Wirtschaftliche Plattform. Die Ökonomie ist das eigentliche Betätigungsfeld und damit das Glanzstück Jawlinskis. Hier beweist er seine Stärken in der Analyse. Der promovierte Ökonom und kenntnisreiche Weltwirtschaftler untersucht die katastrophale Lage des Landes: „Wir leben vom Export unserer Ressourcen, von der Substanz des produktiven und wissenschaftlich-technischen Potentials der Vergangenheit sowie von Krediten aus dem Ausland.“ Auch wer sich nicht für Jawlinskis Wirtschaftsprogramm interessiert erhält einen prägnanten Überblick über die Wirtschafts- und Sozialpolitik für den Zeitraum 1992 bis 1995. Wer wissen will, wie sich die Privatisierung vollzog (Jeder Bürger erhielt einen Voucher - Privatisierungsscheck - als Anteil am Staatseigentum), wie sich die Inflation entwickelte, die zwar gedämpft, aber nicht aufgehalten werden konnte, der kann sich bei Jawlinski umfassend informieren. Graphische Darstellungen dokumentieren die Aussagen über den gegenwärtigen Stand. Genau bezeichnet er auch das Ausmaß der Armut und „daß die am höchsten gebildeten Gesellschaftsschichten - Wissenschaftler, Beschäftigte in den Bereichen Bildung und Gesundheitswesen, Facharbeiter und Techniker der Rüstungsindustrie - das Gros der Armen und Geringverdienenden in Rußland stellen“. (S.153)

Aus dieser Analyse entwickelt JABLOKO „Soziale Ziele und Wirtschaftsprogramm“, die bis ins Detail gehen (Garantien für Werktätige bei Arbeitsunfähigkeit, Reform des Wohnungswesens). Es bleibt die Frage, ob diese weitschweifigen, wissenschaftlich untermauerten Idealvorstellungen eines russischen Intellektuellen vom einfachen Wähler verstanden und nachvollzogen werden können. Spötter sagen, Jawlinski habe in seinem Schreibtisch bereits neue selbstverfaßte Varianten zur Lösung der ökonomischen Krise. Anstatt ein Programm mit politischen Mitteln zu realisieren und sich auch nach Partnern umzusehen, mit denen er politische Ziele in einer Koalition realisieren könne, krame er in seiner Kiste und präsentiere immer neue Grundsatzerklärungen.

Grigori Jawlinski bleibt ein ehrgeiziger, eloquenter junger Mann (Jahrgang 1952), der wieder an die Schaltstellen russischer Macht strebt. Nach demoskopischen Umfragen vor der Präsidentenwahl wünschten ihn sich viele Bürger als Vizepremier, manche halten ihn allerdings nach wie vor für einen vorzüglichen Berater eines Gouverneurs - in der Provinz, weit weg von Moskau (s. o.).

Günther Wolfram


© Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

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