Rezension

 

Zwei Seiten einer Medaille

Helga Gotschlich/Michael Herms/Katharina Lange/Gert Noack:
„Das neue Leben muß anders werden ...“

Studien zur Gründung der FDJ.
Metropol Verlag, Berlin 1996, 211 S.

 

Als sich zum 50. Jahrestag der FDJ im März 1996 ehemalige FDJler in Berlin trafen (mit grauem oder wenig Haar, beleibt und vom Leben gebeutelt), um sich - was denn sonst - an ihre besten Zeiten zu erinnern, da nahmen das einige Blätter und Blättchen zum Anlaß, die geschlagenen Kämpfer durch den Kakao zu ziehen. Fast nett machten sie das, die Süffisanz ergab sich aus dem Gegenstand, die Häme von selbst. Nun kann man über die blaubebluste „Kaderschmiede der Partei“ und ihr dröhnendes Polit-Gewummer ja denken was man will, aber den jungen Leuten, die 1945 gerade mal Deutschland überstanden hatten, sollte zugestanden sein, daß sie nun ein anderes Leben wollten, auch ein anderes Deutschland.

Diese Anfänge dokumentiert die vorliegende Aufsatzsammlung vom Institut für zeitgeschichtliche Jugendforschung in Einzelstudien über die Gründung der FDJ und die dahinter stehenden „Kommunistischen Strategien, Realisierungen, Ergebnisse“, über den „Aufbruch in ein ,anderes‘ Deutschland“, zum „Gründungsprozeß der FDJ in den Westzonen“ und „Zur Geschichte der FDJ in Frankreich, der CSR und Großbritannien“.

Für die Betrachtung der FDJ-Gründung von oben - gewissermaßen der jugendpolitische Generalstabsplan der KPD - ist die Quellenlage durchaus günstig. Mit dem Zugriff auf umfangreiche Bestände lassen sich „sowohl die Umsetzung der KPD-Strategien durch ihre Jugendfunktionäre als auch die internen Widersprüche zwischen Kommunisten und Nichtkommunisten in der entstehenden Massenorganisation“ belegen. So leitet Gert Noack aus den bereits nach der Brüsseler Konferenz (1935) entwickelten Vorstellungen eines „einheitlichen Jugendverbandes“ und den jugendpolitischen Aktivitäten der Gruppe Ulbricht (1945) das „Einheitsjugendkonzept“ ab. Dessen sofortiger Umsetzung stand zunächst jedoch, wie der Autor feststellt, die Nachkriegsrealität gegenüber - und so hatten die Kommunisten „wohl“ den „Wunsch (...), überhaupt erst einmal Kontakt zu Jugendlichen zu finden, ihre Einstellungen kennenzulernen, Alltagsnöte zu mildern, um dann mit der organisatorischen Erfassung und Umerziehung zu beginnen. Intern bestand kein Zweifel am kommunistischen Führungsanspruch.“ Der sollte dann, „getreu den Moskauer Planungen, ,elastisch‘“ verwirklicht werden.

In den bereits existierenden, spontan gegründeten antifaschistischen Jugendausschüssen (FDJ-Vorläufer) in der SBZ wirkten vor allem Kommunisten, deren „Dominanz sich zunächst weniger in den Arbeitsinhalten (zeigte), die in der Tat zumeist von antifaschistischer Kulturarbeit und sozialem Engagement geprägt waren“, sondern sich in personalpolitischen Entscheidungen ausdrückte. Fast unwillig wird in diesem Zusammenhang konstatiert, daß für hauptamtliche Jugendleiter in den Verwaltungen für Volksbildung „nur Menschen mit antifaschistischer Gesinnung, zumeist politisch Verfolgte des Naziregimes“, in Frage kamen, so daß in „leitenden Positionen überwiegend Kommunisten“ waren. Eine paritätische Besetzung wurde dabei „strikt vermieden“.

Mit der Bildung des Zentralen Jugendausschusses im September 1945 (Leiter Erich Honecker) nahmen die Aktivitäten auf allen Ebenen zu. Mit einem klaren Konzept befand sich die KPD gegenüber anderen Parteien im Vorteil. Die Hauptziele bestanden in der Umerziehung der Jugend im antifaschistisch-demokratischen Sinne, in der Hebung der Arbeitsmoral, in der Mitwirkung bei der kulturellen und sozialen Betreuung der Nachkriegsjugend. Durchaus ein Programm, gegen das angesichts des ideellen und materiellen Desasters in Deutschland nichts einzuwenden war - wenn da nicht die lenkende kommunistische Hand gewesen wäre. In vorauseilender Skepsis sperrten sich Vertreter der Kirche und der bürgerlichen Parteien gegen die Mitarbeit - Honecker bewies gegenüber den sich dann doch bereit findenden Partnern „Verhandlungsgeschick und eine Kompromißbereitschaft, die freilich zumeist darin bestand, umstrittene Fragen zu vertagen“, wie z. B. die des Religionsunterrichts. Trotz der Anwesenheit von Männern der Kirche stellt der Autor für den Jugendausschuß zu Recht die Abwesenheit von Überparteilichkeit fest: CDU und LPD waren nicht vertreten.

In der Folge bemühte sich das Gremium zwar um einheitliche und also arbeitsfähige Strukturen der nun in allen Ländern und Provinzen der SBZ gebildeten Landesjugendausschüsse, doch selbst aus den Analysen von Erich Honecker und Robert Bialek zur Jugendarbeit geht hervor, wie schwer es war, eine orientierungslose und politisch apathische Jugend für das Neue zu gewinnen. Klarheit über Organisation und Struktur sollte eine Konferenz der Jugendausschüsse Anfang Dezember 1945 in Berlin-Pankow bringen. Aber auch hier kam es trotz turbulenter Szenen zu keiner Entscheidung, vielmehr zeigte sich, „daß das Kontroll- und Anleitungssystem der KPD-Führung in jugendpolitischer Hinsicht noch nicht perfektioniert war“. Mit anderen Worten, das der KPD bescheinigte rigorose Durchpeitsch-Konzept existierte so nicht, zumindest geben die Quellen das nicht her. Erst mit den Vereinigungsbestrebungen von KPD und SPD kam wieder Bewegung in die Jugendpolitik. Nun lief alles auf die FDJ als einheitliche Organisation hinaus - abgesegnet sowohl von der KPD-Führung als auch durch die SMAD. Die war letztlich - entsprechend den alliierten Festlegungen - die entscheidende Instanz. Einer schriftlichen Bitte Honeckers folgend, besprach Pieck in Karlshorst, dem Sitz der SMAD, mit Shukows Stellvertreter Bokow unter Punkt 7 die „Schaffung von einheitlichen (antifasch.) Jugendorganisationen“ und erhielt als Antwort „einverstanden, aber in M(oskau) entscheiden“. An der Notiz fällt der Plural auf. Hier vermutet der Autor einen Lapsus. Wie auch immer: Die Entscheidung war gefallen. In einem Gespräch mit Pieck stimmten die führenden Sozialdemokraten Grotewohl, Fechner und Schreiber der FDJ-Gründung zu, lehnten einen „sozialistischen“ Jugendverband ab und forderten die paritätische Besetzung aller Führungspositionen. Auch die Jugendfunktionäre einigten sich problemlos auf Ziele und Organisationsaufbau. Einzig Heinz Westphal, entschiedener Gegner des FDJ-Konzepts, verließ die ansonsten einige Runde, von der Honecker zum Vorsitzenden, Theo Wiechert zum Stellvertreter bestimmt wurde. Der Kirche und der LPD wurden keine Posten angeboten. Generell dominierten in der Führung die Vertreter der zwei Arbeiterparteien, viele von ihnen hatten im antifaschistischen Widerstand gekämpft, Jahre im Exil, Zuchthaus und KZ verbracht. Für ihr politisches Selbstverständnis und nach ihren Erfahrungen vollzog sich nun die Wende für Deutschland hin zum Besseren.

Das Tempo, mit dem jetzt die Gründung der FDJ betrieben wurde, läßt vermuten, daß der Einheitsverband der Jugend noch vor der Vereinigung der Mutterparteien unter Dach und Fach kommen sollte. Die Bedeutung und Dimension, die der FDJ beigemessen wurde, wird u. a. an der Materialliste deutlich, die Honecker in Vorbereitung der Gründungsversammlung anfertigte: Er beantragte den Druck von einer Million Aufnahmescheinen, 500 000 Mitgliedsbüchern und einer Million Programmen.

Am 26. Februar 1946 unterzeichneten die Mitglieder des Zentralen Jugendausschusses den Lizenzantrag an die SMAD, dessen Genehmigung am 6. März Pieck mitgeteilt und am 7.März 1946 in der „Täglichen Rundschau“ bekanntgegeben wurde.

Hat die einleitende Studie eine vorwiegend quellengestützte und interpretierende Sicht (die Ergebnis und Urteil bereits kennt), von der jeder weiß, daß Akten die eine und das Leben die andere Seite der Geschichte sind (nicht losgelöst voneinander, aber auch nicht platt identisch) - so erfolgt in den anderen Beiträgen die Annäherung an das Thema ergebnisoffen, auf der Basis von Zeitzeugenberichten und Quellen, das vermittelte Zeitbild ermöglicht Zeitverständnis, Autorenmeinung ist deutlich, aber kein Diktat.

Vor allem aber wird ein Aspekt untersucht, der eine differenzierte Bewertung ermöglicht. Wohltuend einfache Fragen werden gestellt: Wie erfuhren die Mädchen und Jungen von der FDJ-Gründung, welche Anteile hatten sie daran, durchschauten sie das Bedingungsgefüge für einen Einheitsverband, waren politisches Kalkül und Beschlüsse für sie praktisch relevant - wer waren sie, was wollten sie, die ersten FDJler? Fragestellungen, die für die beabsichtigte organisationsgeschichtliche Darstellung unumgänglich sind. Im Mittelpunkt des Aufsatzes „Aufbruch in ein ,anderes‘ Deutschland“ stehen folgerichtig die „FDJler der ersten Stunde“, die Befindlichkeit der Jungen und Mädchen, ihre Handlungsmotivationen. Nicht gerade üppig ist das für derartige Forschung zur Verfügung stehende empirische Material. Oft krankt es daran, daß es „von ideologischen Schablonen überformt und vom Zwang der Erfolgsmeldung geprägt“ scheint, oder daß Berichte zur Jugend 1945/46 retrospektiv, 1947/48 und später, erstellt wurden. Auch authentische Selbstzeugnisse sind selten, „am ehesten im spektakulären Konfliktfall“ oder „als exemplarisches Beispiel ,gelungener Jugendpolitik‘ zur propagandistischen Darstellung“ vorhanden. Für die vorliegende Studie wurden u. a. Teilergebnisse einer 1994 begonnenen repräsentativen Zeitzeugenbefragung genutzt sowie eine alltagsgeschichtliche Dokumentensammlung (Tagebücher, FDJ-Chroniken, Programme, Fotos u. ä.).

Diese Erinnerungen erzählen Geschichte - und Geschichten des Überlebens, von der Suche nach Sinn, vom Engagement und vorsichtigem Mitmachen. Der Bericht von Georg G. über die FDJ in B. beschreibt die Situation „Wir waren eine zusammengewürfelte Gruppe. Ich mit eben 14 Jahren der Jüngste. Im Hinterzimmer einer Eckkneipe trafen wir uns. (...) Wir saßen gedrängelt und hungrig beieinander. Die Kleidung zerschlissen, die Schuhe selbst repariert. Mein Bruder, der an der Ostfront mit 19 Jahren gefallen war, hatte einen Pullover hinterlassen. Den trug ich, darüber die von Muttern zeitgemäß umgeschneiderte Kluft aus der HJ. Keiner stieß sich daran. Ulrich F. (...) hatte nur noch ein Bein. Er war ein Kriegsversehrter. Wir alle entwickelten ein Gefühl füreinander, ohne Übersetzung in eine intellektuelle Form.“ Oder Peter K.: „Was die FDJ für mich war? Mein erstes Zuhause nach den Strapazen des Krieges!“ Der 16jährige war elternlos mit einem Flüchtlingstreck aus dem Osten nach Berlin gekommen. „Bei einem Gang in die Stadt stieß ich auf eine Baracke, da waren Mädchen und Jungen, ungefähr so alt wie ich. Die fragten nicht viel, und ich half dort Spielzeug reparieren. So nebenher hörte ich, daß sie sich antifaschistische Jugendgruppe nannten, später wurde das eine FDJ-Gruppe. Mich nahm einer der Jungs mit. (...) Ich hatte nun ein Dach über dem Kopf und fand eine Gemeinschaft, die mich aufnahm.“

Diese und andere Dokumente wie Protokolle der Jugendausschüsse und Berichte der frühen FDJ lesen sich heute „wie sorgenvolle Darstellungen von Sozialarbeitern und Sozialpädagogen aus kaum noch vorstellbarer Not“. Ganz zu schweigen von dem, was sie hinter sich hatten, die 15 bis 18jährigen, die noch in den verlorenen Krieg geschickt wurden oder freiwillig gingen. Wie Manfred H., der fassungslos einen von der SS erdrosselten „Verräter“ sieht, der nicht mehr schießen wollte. 19 Jahre alt. „Das Bild dieses Erhängten verfolgte mich, denn er hatte den Krieg satt gehabt, wie ich!“

Die Verarbeitung solcher Schockerlebnisse, wie überhaupt der Nazizeit, erfolgte sehr unterschiedlich. Einerseits wird in Unterlagen der Sozialämter, der Jugendausschüsse und der FDJ hemmungslose Vergnügungssucht, Herumtreiben in Bars und Kneipen sowie Neigung zu Gewalt und Kriminalität festgestellt, zum anderen führte das Empfinden einer individuellen und allgemeinen Krisensituation doch auch zu einem „Aktivismus des Neubeginns“. Zeitzeuge Hans D. „Dieses neue Deutschland sollte anders, besser sein. Aber wie genau? Die wenigsten von uns besaßen eine konkrete Vorstellung.“ In diese unkonkrete Hoffnung und Erwartung hinein wirkten die Jugendgruppen, die FDJ. Parteipolitische Strategien und Taktiken spielten an der Basis kaum eine Rolle.Wichtig war das tägliche Leben, ein wenig Spaß, ein erkennbarer akzeptabler Sinn wie wohnen, studieren, arbeiten. Der Autorin ist zuzustimmen in der Feststellung, daß die Jungen und Mädchen mehrheitlich „die Anfänge der FDJ nicht als Zugriff Erwachsener oder politischer Repräsentanten“ erlebten. „Jugendpolitische Konzepte der ,FDJ-Gründer von oben‘, die Auseinandersetzungen darum, taktisches Kalkül und Querelen der Spitzenfunktionäre waren dem einfachen FDJ-Mitglied in der Regel unbekannt.“ Eher erschien ihnen die Führung in Form von praktischer Hilfe wie finanzielle Unterstützung, Brennmaterial oder Räume. So berichtet Axen am 22. September 1945 an Honecker: „Im Einverständnis der Militärkommandantur wurden 5 Nazivillen enteignet und als Klubhäuser für die Jugend vom Jugendausschuß eingerichtet (...).“

Die Einheitsjugendorganisation FDJ zählte im April 1946, einen Monat nach der Gründung, in der SBZ 160 300 Mitglieder, im Dezember 1946 waren es 413 005, damit waren 16% der jugendlichen Gesamtbevölkerung zwischen 14 und 25 Jahren mit unterschiedlicher sozialer Herkunft in der FDJ organisiert.

Für viele von ihnen war es ihr „ganz persönliche(r) Aufbruch in ein ,anderes‘ Deutschland“. Eine Zeit, in der sich „Zukunftsvisionen wie nachdrückliche Wahrheiten in verständlichen Sätzen formulieren“ ließen. „Wir hatten unsere Lage erkannt, wer wollte uns da aufhalten?“ beschreibt Georg G. die Zeit des Anfangs.

Anne Mann


© Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

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