Rezension

 

Zwei Blicke von „außen“ auf die DDR und Berlin

Robert Darnton: Der letzte Tanz auf der Mauer.
Berliner Journal 1989-1990.

Carl Hanser, München 1991, 231 S.

Emmanuel Terray: Ombres berlinoises.
Voyage dans une autre Allemagne.
Editions Odile Jacob, Paris 1996, 269 S.

 

Beide Autoren habe ich in Paris kennengelernt, Robert Darnton, den Spezialisten für die Französische Literatur des 18. Jahrhunderts und Kenner der Problematik der „Grande Révolution“, und Emmanuel Terray, den Ethnologen aus Paris.

Beide haben Bücher geschrieben, die das Thema Berlin (Ost) und die DDR zum Gegenstand haben, trotzdem kann man sich kaum unterschiedlichere Publikationen vorstellen.

Die Berliner Schatten. Reise in ein anderes Deutschland zeigen nicht nur den geschulten Blick des Ethnologen, sie erfreuen den des Französischen mächtigen Leser mit einer ungemein poetischen und gleichzeitig äußerst präzisen Sprache. Terray ist nicht etwa einer jener „Schönschreiber“, die über jeden Sachverhalt „sülzen“ können, nein, man kann ihm in seinem Berlin-Text Schritt für Schritt folgen: Recherche in den Bibliotheken, akribische „Spaziergänge“ durch die „Hauptstadt“ und das Gespräch mit den „Eingeborenen“ verdichten sich bei ihm zu Passagen, die Schönheit und Wahrheit in gleicher Weise enthalten. Aber ich höre schon den Einwand: Was ist die Wahrheit? Und liegt Schönheit nicht zuallererst im Auge des Betrachters? Ja, ich bekenne es, ähnliche bis kongruente Sichtweisen des Rezensenten auf die Berlin-DDR-Problematik verführen natürlich dazu, dem Autor nur allzu willig zu folgen. Es ist dabei erstaunlich, daß man sich dabei keiner Gefahr aussetzt. Gerade in einem der allerschönsten Kapitel, dem „Duell zwischen Schloß und Palast“, wird Terray nicht müde, uns geduldig und teilweise amüsant fast alle möglichen Standpunkte vorzuführen, dabei wird auch seine ureigenste Meinung deutlich, die da lautet: Nehmt es doch nicht so fürchterlich bierernst, entscheidet, und die Entscheidung wird so oder so falsch - oder richtig - sein. „Eine Sache ist sicher: Wie auch immer die Lösung aussehen wird, sie wird notwendigerweise schlecht sein, ... sie wird das Gedenken oder den Geschmack beleidigen, sie wird die Empfindungen der einen oder der anderen verletzen ... Aber vielleicht ist es gerade dieser „defizitäre“ Charakter, der zum Gewinn wird: Er wird diese (deutsche) Nation, die sich so sehr für Ordnung, Strenge und Perfektion begeistern kann, daran erinnern, daß im Städtebau wie in der Politik das Ideal nicht von dieser Welt ist und daß statt einer Verschwendung von Kräften, um einem Traum zu folgen, eine vernünftige Gemeinschaft vielmehr lernen sollte, mit ihrer Endlichkeit zu leben.“

Bei der Lektüre der Berliner Schatten habe ich mich immer wieder gefragt, wie wohl diese oder jene Einzelheit oder Meinung des Autors beim Lesepublikum ankäme. Schon beim kurzen Nachdenken wird aber klar, daß trotz der Sorgfalt des Autors, möglichst jede wichtige Stimme zu Gehör zu bringen, eine partielle, parteiische Lektüre gerade dieses Buches stattfinden muß. Zu schmerzlich, für eine bestimmte Seite, werden gleich auf der ersten Seite Reizwörter ausgestreut, das „Berlin-capitale-de-la-RDA“ (Berlin - Hauptstadt der DDR) und der „Grand Frère soviétique“ (der große sowjetische Bruder) finden sich auf derselben Buchseite mit den Wörtern „unpersönlich und mechanisch“, „grisaille“, Grauheit oder Gräue kommt gleich viermal vor, das Zusammenbrechen der DDR wird mit dem berüchtigten Kartenhaus verglichen et cetera ... Jedoch täuscht dieser sehr herbe Anfang wiederum. Emmanuel Terray ist sehr wohl bereit, wie schon gesagt, viele konträre Meinungen in sich aufzunehmen und sie dann sauber und auch anschaulich gegliedert vor uns niederzulegen. In sechzehn Kapiteln zeigt er uns „lieux de mémoire“ unterschiedlichster Natur: Von Wandlitz im Norden bis zum Grab Ulrike Meinhofs in Alt-Mariendorf geht die Reise mit ihm, von Kleists Grab im Südwesten bis zu den „Sozialisten“ auf dem Friedhof Friedrichsfelde im Osten Berlins. Mielkes, „tanière“ (Höhle) in der Normannenstraße wird ebenfalls in einer Sprache beschrieben, und mit einer Beobachtungskraft, die leider nur allzu selten anzutreffen sind. Wenn ich mich in den letzten Monaten immer wieder gefragt habe, ob Emmanuel Terrays Buch wohl ins Deutsche übersetzt werden sollte, dann ist mir jetzt die Antwort klar: ja.

Zwei sehr unterschiedliche Kulturen wurden da von einem politischen Willen in Ost und West, der zu einem bestimmten Zeitpunkt vorhanden schien, zusammengeschweißt, die Schweißnaht wurde von eiligen Pfuschern „gezogen“, und die unterschiedlichen Materialien werden sich noch lang aneinander reiben. Um an dieser Stelle ein Mißverständnis zu vermeiden: Diese Einschätzung stammt von mir, dem Rezensenten, wenn ich sie hier so vehement vorbringe, dann, weil die Stimmen von „außen“ in diesem Prozeß so wichtig sind, sie können das immer nötige Korrektiv sein, wenn sich „Ossis“ und „Wessis“ streiten. Das traditionelle Nord-Süd-Gefälle in deutschen Landen, man denke nur an die polemischen Seitenhiebe, die früher häufig in der Hamburger „Zeit“ gegen den Süden zu finden waren, hat mit dem abrupten Zusammenschmieden von BRD und DDR eine weitaus empfindlichere Ost-West-Achse hinzuerworben. Wer darüber weiter nachdenken möchte, sollte unbedingt Emmanuel Terray auf seiner „Reise in ein anderes Deutschland“ folgen, Geduld ist allerdings angebracht, es entzieht sich meiner Kenntnis, ob derzeit schon an einer Übersetzung gearbeitet wird.

Robert Darntons Text hat ganz andere Qualitäten. Er ist eine Übersetzung aus dem Amerikanischen und vermutlich nicht immer in allerbester Qualität. Manches liest sich holprig, sachlich nicht ganz korrekt, wobei mir das Original zum Vergleich fehlte und ich so eine klare Schuldzuweisung lieber unterlasse. Aber hatten Hitler und Genossen tatsächlich „schmale Lippenbärte“? Dieser Ausdruck läßt mich eher an die französische, allerdings verflossene Mode der ausrasierten Oberlippenbärtchen denken als an die Hitlersche „Rotzbremse“. Im Vergleich zu Terrays längerem und späteren Aufenthalt wird hier die Wende selbst aufgezeichnet, aus der Sicht eines amerikanischen Professors. Woran liegt es, daß ich mit dem französischen „Grau“ besser zurechtkomme als mit dem amerikanischen Pendant? - Darnton „kennt“ zwar - theoretisch - recht gut das Frankreich des 18. Jahrhunderts, läßt sich aber, wie viele Amerikaner, allzu leicht von der real-sozialistischen Wirklichkeit schocken. Dies führt dann zu Sätzen wie dem folgenden: „Wie die meisten mir bekannten DDR-Akademiker lebte er in einem Slum.“ Oder: „Nicht, daß mich Universitätspräsidenten sehr beeindrucken. (...) Sie leben in Palästen, eingerichtet wie Museen und geführt wie Zentralen großer multinationaler Konzerne.

Wie würde nun der Palast des Halleschen Universitätspräsidenten aussehen? Ich band mir meine beste Krawatte um. (...) Wir fuhren mit dem Aufzug in den fünften Stock, überquerten einen Treppenabsatz, liefen einen Flur entlang, stiegen eine Treppe hinauf, liefen einen weiteren Flur entlang und standen schließlich vor seiner Wohnung.“ Ja, man höre genau hin, eine Mietwohnung und kein Palast! Diese Details mögen zumal für den ostdeutschen Leser ärgerlich sein, bei der ersten Lektüre waren sie es auch für mich. Liest man ein zweites Mal, wird eigentlich nur klar, daß hier einfach von zwei verschiedenen „Welten“ gesprochen wird. Dies ist ein weiterer Vorteil des Blicks von „außen“. Robert Darntons Buch hat den Vorteil, daß sich Lesern wie mir, die lange Zeit so etwas wie Berührungsangst vor den Ereignissen nach dem Mauerfall hatten und die deshalb kaum etwas mitbekamen von den alltäglichen „Umstürzen“ in der DDR in den Jahren 1989 und 1990, das Tagebuch eines ebenfalls akribisch beobachtenden Ausländers öffnet und so das mehr oder weniger freiwillig Versäumte nacherleben läßt.

Es ist ein sachlicher Stil, mal von der Problematik des Wohlstandsgefälles abgesehen, der anschaulich und auch ehrlich das subjektiv gesehene Ereignis nachzeichnet: „Man sollte meinen, daß ein Kenner der französischen Literatur auf ein Bad in einer deutschen Menge vorbereitet sein müßte.“ Darnton hat vorher von französischer Forschung zu den „mentailtés collectives“ (Kollektivpsyche) gesprochen. Wir lesen weiter: „Aber die einschlägige Theorie erwies sich für mich als Historiker, der sich am Silvesterabend in die dichteste Menge begab, jene nämlich, die auf der Mauer tanzte, als wenig hilfreich.“ Ein wenig später resümiert der Autor so: „Wie sollte man das alles aufnehmen? Das Spektakel der Deutschen, die Flaggen schwenkten und sich in gewaltigen Massen versammelten, wird niemanden fröhlich stimmen, der sich an die dreißiger Jahre erinnert oder den Aufstieg des Nazismus studiert hat. Doch trotz all ihrer latenten und manifesten Gewalt erinnerte die Berliner Silvesterfeier nicht an einen Nürnberger Reichsparteitag. Statt behördlich verordnet, war sie chaotisch, hatte keine Richtung, keine Inszenierung und keinen ,Führer`. Gute Laune, nicht Wut herrschte vor, auch wenn einige Betrunkene aus dem Rahmen fielen.“

Ich kann nicht mit Sicherheit sagen, ob es der zu große Abstand ist zwischen den USA und Zentraleuropa, aber leichter fällt es mir doch, dem französischen Nachbarn zu folgen als dem amerikanischen Historikerkollegen aus Princeton, es ist so etwas wie eine andere Tonlage in Darntons Journal, die mich doch oft die Stirn runzeln läßt. Im Vorwort, das auf ganz wissenschaftliche Art und Weise als letztes geschrieben wurde, räumt der Autor in sehr sympathischer Weise ein, daß er sich in seinem Tagebuch doch mehrfach mit seinen Einschätzungen der jeweiligen Entwicklung getäuscht habe. Ein Zitat sei dem Leser dieser Rezension noch zugemutet: „Vielleicht hätte ich darauf vorbereitet sein sollen, alles so fremdartig zu finden, hatte aber angenommen, die Ostdeutschen entsprächen im wesentlichen den Westdeutschen, nur eben mit anderen politischen Überzeugungen. Beide sprachen die gleiche Sprache und teilten eine gemeinsame Kultur. Allerdings hatten sie seit vierzig Jahren getrennt gelebt, und mir war überhaupt nicht bewußt, wie folgenreich man sie geteilt hatte und wie tief diese Teilung in die beiden Gesellschaften eingeschnitten hatte.“

Der tiefe Riß, der heute klar festzustellen ist, zwischen den beiden deutschen Abteilungen sollte nicht leichtfertig zugequatscht werden; was Politiker vielerlei Couleur jeweils als ihre Wahrheit verkaufen, die „deutsche“ Frage betreffend, sollte uns Individuen nicht allzu schnell verführen. Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste, und in einer solchen sitzen wir jetzt. Hilfe von „außen“, und nichts anderes ist die Kritik der Nachbarn um uns herum, müßte jederzeit willkommen sein, vor allem dann, wenn sie so klug und angenehm formuliert wird wie im Falle von Emmanuel Terray, oder auch dann, wenn sie, wie bei Robert Darnton, zwar in einigen Fällen das kollektive und individuelle DDR-Bewußtsein verletzen kann, letztendlich uns Deutschen insgesamt einen interessanten Spiegel entgegenhält: Wir sehen in ihm - dem Autor oder der Realität sei Dank - nicht immer nur den „ugly german“.

Karl F. Faltenbacher


© Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

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