Rezension

 

Streitbares zum unbestreitbaren Problem Nr. 1

Eberhard Brandt: ... und keiner sieht, daß der Kaiser nackt ist ...
Über Ideologie und das Ideologische in der Sozialarbeit.

Edition Philosophie und Sozialwissenschaften 34
ARGUMENT-Verlag, Hamburg 1996, 221 S.

 

Um es vorwegzunehmen: Das Ideologische in der Sozialarbeit besteht für den Autor darin, daß sie - bewußt oder unbewußt - dazu beiträgt, die in der bürgerlich-parlamentarischen Ordnung bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse zu verschleiern (d. h. im Sinne des Märchens von Andersen zu bewirken, daß „keiner sieht, daß der Kaiser nackt ist“) und eine mehr oder weniger freiwillige Einordnung der durch ebendiese Verhältnisse Benachteiligten zu erreichen. Man kann über diese Prämisse geteilter Meinung sein, wie auch über den Standpunkt Brandts, daß der Ausweg aus allem Dilemma letztlich nur im „Ende der kapitalistischen Produktionsweise in der traditionellen Form des ... auf Konkurrenz basierenden Privatkapitalismus“ (S. 10) bestehen könne. Man mag es auch bedauern, daß Brandt sich der Praxis und den alltäglichen Problemen der Sozialarbeit erst im dritten Teil seines Buches zuwendet. Doch interessant ist es schon, wie hier der Begriff des Ideologischen, der gegenwärtig vor allem zur Beschreibung (und Verdammung) geistig-politischer Verhältnisse in der untergegangenen DDR verwendet wird, auf die kapitaldominierte bürgerliche Gesellschaft und ihre wesentlich flexibleren, vielgestaltigeren und tiefergreifenden Mechanismen angewandt wird.

Von Marx’ These ausgehend, daß der „Fetischcharakter der Ware“ zur „Verdinglichung“ und damit Verschleierung gesellschaftlicher Verhältnisse führt, stützt sich Brandt in seinen Darlegungen vor allem auf die Gedanken Gramscis über die „Zivilgesellschaft“ und die durch sie erreichte „kulturelle Hegemonie“ im Alltagsbewußtsein der Menschen. (S.40ff.) Einen großen Platz räumt er auch den Überlegungen des französischen Philosophen Althusser (1918-1990) ein, daß der kapitalistische Reproduktionsprozeß neben der materiellen auch der ständigen „ideologischen Reproduktion der Arbeitskraft“ (S.50ff.) bedarf. Besonders für Leser, für die mit der „Wende“ eine plötzliche Umwertung des Begriffes ideologisch von „sehr wertvoll“ zu „höchst verdammenswert“ verbunden war, dürfte Brandts ideengeschichtliche Exkursion zu diesem Thema nützlich sein. In der Zeit der Aufklärung entstanden und „die neue Wissenschaft vom Denken“ bezeichnend, wird der Begriff der Ideologie später von Napoleon als „Bezichtigungsformel“ gegen die Ideen der Aufklärung verwandt und von Marx, daran anknüpfend, als „falsches Bewußtsein“ verstanden, während der sich auf Marx berufende Marxismus-Leninismus den Begriff sowohl positiv (für sozialistische Ideologie) als auch negativ (für bürgerliche) benutzte. Sich vor allem auf Marx stützend, will Brandt unter Ideologie heute „die immer fortwährende, sich scheinbar selbst fortzeugende Produktion von freiwilliger Unterwerfung unter die gesellschaftlichen Machtverhältnisse und die damit beabsichtigt verbundene Vorstellung, die Verhältnisse seien so wie sie scheinen“, verstanden wissen. (S. 84) Das mag, abgesehen von sprachlichen Unschönheiten, als These anfechtbar sein - die Beispiele, die Brandt zur Unterstützung seiner Aussage aus Familien- und Partnerbeziehung, Kindergarten, Schule und Beruf, Politik, Wirtschaft und Medien heranzieht, sind durchaus plausibel (wobei mir die ideologiebildende Rolle von Presse, Funk und Fernsehen eher noch unterbelichtet erscheint). In dieser ideologischen Rolle sieht Brandt nun auch die soziale Funktion der Sozialarbeit, die er mit Begriffen wie „Reproduktion des Arbeitsvermögens“, „Kontrolle und Disziplinierung“, „Individualisierung der Armut - und damit gleichzeitig deren Entpolitisierung“ umschreibt. (S. 143)

Nach seinem, wie gesagt, nicht uninteressanten und sicher nicht unumstrittenen theoretischen Exkurs bietet uns Brandt ab S. 145 einen sehr umfassenden, mit vielen Zahlen durchsetzten, aber auch immer wieder zu theoretischen Verallgemeinerungen führenden Einblick in die Sozialarbeit mit Arbeitslosen und Sozialhilfe-Empfängern. Wobei der Autor, der selbst auch Sozialarbeiter unterrichtet, zwischen staatlich-bürokratischer (d. h. unzulänglicher) und „betroffenenorientierter“ Sozialarbeit unterscheidet, wobei letztere auf Selbständigkeit, Selbstverantwortung und Selbstentscheidung der Betroffenen zielen sollte. In diesem Zusammenhang spricht Brandt vom „kritischen Sozialarbeiter“ der sich „hinausbewegt aus diesen Machträumen“, der „zwar nicht generell machtfrei oder ideologiefrei“ handelt, weil die gegebenen gesellschaftlichen Institutionen „gleichsam unsichtbar hinter seinem Rücken“ stehen, der aber „durch seine Handlungsweise die machtdemonstrativen Strukturen und Gegenstände in Frage“ und dem Herrschaftswissen „Wissen über die Herrschaft“ entgegenstellt (S. 209) und - so kann der Leser schlußfolgern - mithilft, die Nacktheit des Kaisers sichtbar zu machen.

Nachdenkenswert auch, was Brandt an anderer Stelle über die materiellen, physischen und vor allem psychologischen Folgen der Arbeitslosigkeit, über die Familie als Be- und Entlastung der Arbeitslosen, über die „ideologische Machtbotschaft“ von Antragsformularen und Arbeitsamtskorridoren schreibt. Das Buch, dem eine Dissertation an der Universität Oldenburg zugrunde liegt, ist bereits vor zwei Jahren entstanden. Seine Zahlen sind deshalb nicht mehr auf dem neuesten Stand, seine Aussagen und Schlußfolgerungen dagegen haben eher noch an Aktualität gewonnen. Und ob man mit Brandts „Ideologiesierungen“ einverstanden ist oder nicht - unbestritten dürfte seine Feststellung bleiben, „daß das Problem der Arbeitsplatzlücke das gesellschaftliche Problem in der Bundesrepublik in den nächsten Jahren und Jahrzehnten bleiben wird“. (S. 147)

Horst Wagner


© Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

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