Rezension

 

Familienbande

David Trueba: Die ganze Nacht geöffnet
Roman.

Aus dem Spanischen von Peter Schwaar.
Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt/M. 1997, 290 S.

 

Daß Großmutter Alma sich seit siebzehn Jahren weigert, das Bett zu verlassen, obwohl sie kerngesund ist, kann man verstehen. Abelardo, ihr Gatte, von ihr meist nur als Trottel oder Vollidiot apostrophiert, schreibt nicht nur entsetzliche Verse, die er ungefragt zum Besten gibt (Kostprobe: „Wenn Edelmut und Tod im Kampfe liegen / Können sie dich nie und nimmer besiegen“), sondern als militanter Nichtraucher und Tabakgegner schlägt er mit seinem Krückstock die Schaufenster von Zigarettenläden ein und reißt Passanten den Glimmstengel aus dem Mund.

Der Apfel ist dann auch nicht weit vom Stamm gefallen. Sohn Felix und dessen Frau Paula (im allgemeinen schlicht „Der Vater“ und die „Die Mutter“ genannt) haben sechs Söhne in die Welt gesetzt, von denen mindestens die Hälfte schwer oder mittelschwer beknackt ist. Während sich Felix den Arsch aufreißt, um all die Mäuler zu stopfen, und die Mutter in echt südlicher weiblicher Hingabe Haus und Familie zusammenzuhalten versucht, ehelicht der arbeitsscheue Pseudo-Filmkritiker, Sohn Nr. 1, eine nymphomane Französin, die sich vor den Augen ihrer Schwäger nackt im Garten sonnt, hat Sohn Nr. 2 aufgrund seiner abstoßenden Häßlichkeit Probleme mit all und jedem und vor allem mit den Weibern, hat Nacho (der dritte und normalste) nix im Kopf als das Frauenzimmer als solches und steckt seinen pubertierenden, romanschreibenden kleinen Bruder an mit seiner Geilheit. Sohn Nr. 4, eigentlich Insasse der Klapsmühle, jetzt aber wieder im Schoß der Familie, hat das Latimer-Syndrom, das heißt, er hält sich für seinen eigenen Vater, der dann prompt aus dem ehelichen Schlafzimmer verbannt wird, damit Sohnemann bei Mama schlafen kann (in jedem Sinne!). Der Jüngste schließlich, Fischzüchter, leidet unter einer grotesken oralen Enthemmung, die schließlich durch einen nur zum Essen entfernten Maulkorb kuriert wird.

Die panoptikale Familie kriegt von der Oma ein Eigenheim mit Garten geschenkt, in dem sie sich austoben kann, und bald legt man sich nicht nur ein Schwimmbecken zu, sondern auch noch einen skurrilen Hauspsychologen, der draußen im Zelt kampiert und mit Hilfe seiner eigenen Prostituierten-Schwester den pickligentstellten Sohn 2 per Sex zu kurieren versucht. Eine schöne Pflegerin von Oma Alma macht das Kuddelmuddel vollkommen - in sie verlieben sich gleich drei Söhne und der Papa dazu.

Nach einer Reihe von äußerst turbulenten Szenen, in denen munter durcheinander gevögelt wird und die Ohrfeigen nur so knallen, muß es ausgerechnet Sohn Nr. 3, den normalsten dieses paranoiden Vereins erwischen: Seine ältliche Geliebte, von ihm wegen der Pflegerin verlassen, erschießt ihn.

Das ist der Stoff, aus dem man Comedies bastelt - wohlgemerkt, keine Komödien, dazu ist Truebas Geschichte zu schrill und zu gagreich. Und so überrascht es mich keineswegs, daß der junge Autor (Jahrgang 69, selbst mit sieben Geschwistern aufgewachsen) auch ein Drehbuchschreiber ist. Denn da liegen seine Meriten. Die Geschichte ist sprachlich eher schlicht erzählt, sie holpert über Strecken, aber sie hat genaue Dialoge, und vor allem: Wir werden von einer turbulenten Szene in die nächste gejagt, die optischen Angebote sind brillant, das „Kippen“ von Situationen und Stimmungen wird aus dem Effeff beherrscht. Hier ist ein Szenenschreiber am Werke.

Es gibt eine spezielle Form spanischen chineastischen Humors, der durch seine Überdrehtheit, seine groteske Deformation der Realität, seinen unorthodoxen Blick auf Zustände und Personen fasziniert. Ich denke da vor allem an die Filme Almodovars, in dessen Nähe sich Trueba eindeutig bewegt, und würde mir wünschen, der Selbstbedienungsladen Familie, der die ganze Nacht geöffnet ist, käme irgendwann einmal auf die Leinwand, denn da gehört er hin. Wenn der vierzehnjährige Gaspar die von ihrem Zuhälter gerade übel zusammengeschlagene Psychologen-Schwester-Nutte „rettet“ und sie auf dem morschen Dachboden des Hauses den Jungen in das Werk der Venus einweiht, wenn sie dann durch die Decke bricht und dem verzückten Großvater als nackte Jungfrau Maria erscheint - da bleibt kein Auge trocken. Auch schon im Buch nicht. Aber als Filmchen könnte das alles noch genußreicher sein.

Manchmal erinnern mich die bescheuerten Protagonisten auch an Jean-Claude Lauzons legendäre Schwarze Komödie LEOLO, wenn auch Truebas Leuchten der Kick ins Phantastische, Surreale fehlt. Ich halte den Autor für ein großes Talent. Ob seine Zukunft allerdings wirklich im Roman liegt, ob er nicht doch einer der wenigen Szenaristen mit echten Einfällen ist, der mit dem adäquaten Regie-Partner seine Gipfel erklimmt - das wage ich nach diesem Debüt nicht zu entscheiden.

Waldtraut Lewin


© Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

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