Rezension

 

Die schmerzhafte Verwandlung des Shane McCabe

Patrick Quigley: Grenzland
Roman.

Aus dem Englischen von Nicole Cyr und Peter Kleinhempel.
Verlag Volk & Welt, Berlin 1996, 373 S.

 

Es ist schon bemerkenswert, wie viele Romane von literarisch guter Qualität in Irland entstehen. Das sind keine Bücher, die durch aufwendige Werbekampagnen und dubiose Bestsellerlisten hochgepowert werden, sondern zumeist Texte mit dem großen epischen Atem, Texte, die den Leser von den ersten Seiten an emotional bewegen. Diese epische Tradition geht weit zurück ins Keltische, Gälische, wird bewahrt über Jahrhunderte des Kampfes um die nationale Identität, wird in den Wirren der Historie immer wieder genährt aus dem Freiheits- und Überlebenswillen eines Volkes, das eng verbunden ist mit Natur und Landschaft.

Auch Patrick Quigley, 1953 in der irischen Grafschaft Monaghan geboren, zunächst Verfasser von Kurzgeschichten und Gedichten, reiht sich 1994 mit seinem Romanerstling (Originaltitel: Borderland) ein in die Schar erfolgreicher irischer Romanciers.

Er beschreibt das Leben des jungen Shane McCabe, der im Grenzgebiet zwischen der Republik Irland und Nordirland aufwächst, in einer Gegend, die nicht sicher ist, in der die Auseinandersetzungen zwischen Katholiken und Protestanten zu Bombenanschlägen, Schießereien, zu offenem und verdecktem Terror führen. Die Menschen dieser Grenzregion versuchen mit diesen Gefahren zu leben, sind entweder selbst in die unterschiedlichen Gruppierungen verstrickt oder wollen sich aus allem heraushalten.

Shane McCabe lebt in ländlicher Umgebung, seine Eltern und die Verwandten sind arme Bauern. Mit vier Jahren verliert er die Mutter, als das Bauernhaus durch eine Unachtsamkeit des Vaters abbrennt. Diese verhängnisvolle Feuersbrunst, in der die Mutter umkommt, hat sich Shane fest eingeprägt, und später im Feuer der Bombenanschläge wird die Erinnerung an den Verlust erneut wach. Shanes Kindheit ist nicht außergewöhnlich, er wohnt jetzt mit dem Vater bei Verwandten, wird auf dem Schulweg von rabiaten Nachbarskindern drangsaliert, ertrinkt durch deren Schuld fast in einem Moorloch, es kommt zu Prügeleien mit protestantischen Schülern. Shane entwickelt sich zu einem eher introvertierten Jungen, liest Bücher und beschäftigt sich, für einen Bauernsohn recht ungewöhnlich, mit weltanschaulichen Fragen. Und er verliebt sich in Joy, die schöne und intelligente Tochter des protestantischen Gutsnachbarn Major Bell, dem sein Vater mitunter in der Landwirtschaft hilft. Major Bell besitzt einen viel ertragreicheren und ansehnlicheren Hof als seine katholischen Nachbarn; die Zugehörigkeit zu den verschiedenen Konfessionen ist hier auch eine soziale Frage. Und an dieser sozialen Frage scheitert letztlich auch die Erfüllung der Liebesbeziehung zwischen Joy und Shane. Major Bell, der sich über politische und soziale Konflikte erhaben fühlt, schickt seine Tochter einfach nach England, um sie Shanes Einfluß zu entziehen.

Trotz seiner Verbundenheit mit dem Land seiner Väter geht Shane in die Stadt; er möchte mehr erreichen als sein Vetter Jimmy, der nach dem Tod von Shanes Vater auch dessen Land bestellt und moderne Methoden der Landwirtschaft einführt, indem er die landschaftsprägenden Hecken zwischen den Feldern, den „lebendigen Wesen“, herausreißt, und es trotzdem nicht zu Wohlstand bringt. Aber es ist schwer für Shane, eine Arbeit zu finden, die ihn auch ausfüllt. Nachdem er eine Zeitlang gefrorene Hähnchen in Schachteln gepackt hat, findet er eine Anstellung in einer psychiatrischen Klinik. Es ist eine stumpfsinnige Arbeit, denn die Patienten werden nur ruhiggestellt und gleichsam aufbewahrt. Er stellt Betrachtungen an über normales und anormales Leben der Menschen: „Die Leute machen eine Menge Dinge, die uns nicht als normal erscheinen ... Einige legen Bomben, die andere in Stücke reißen. Soldaten und Polizisten töten Menschen, und Regierungen vertuschen das.“ Doch Shanes Erkenntnisse stoßen auf wenig Verständnis bei seinen Vorgesetzten, und ihm wird als unbequemem Mitarbeiter nach kurzer Zeit gekündigt. Wieder verpackt er totes Geflügel, um den Lebensunterhalt zu verdienen.

Shane begreift, daß sich etwas ändern muß in seinem Leben, aber auch in der irischen Gesellschaft, und er gerät in anarchistische Kreise. „Ich sah mich als einen Che Guevara der irischen Berge, der eine Rebellenarmee aufbaute, die sich von Hügeln und Städten aus auf versprengte und demoralisierte Sicherheitskräfte stürzte.“

Und er trifft Joy wieder, seine große Liebe. Auch sie führt ein unruhiges Leben, ist von einem anderen schwanger und läßt das Kind abtreiben. Über die Familie des Majors Bell ist das Unglück hereingebrochen. Terroristen töten den Sohn, den Hoferben. Der Versuch, der Geschichte den Rücken zu kehren, ist gescheitert, und Bell verfällt in tiefe Depressionen, während seine Verwandten auf grausame Rache sinnen.

Ganz zufällig gerät Shane in diesen Rachefeldzug. Er wollte sich nur von Joy, die wieder auf dem Hof der Eltern wohnt, verabschieden, weil er das Grenzland wegen seiner anarchistischen Aktivitäten verlassen muß, und wird unfreiwillig Zeuge der Vorbereitung des Anschlags auf katholische Führer des Untergrundkampfes. Man zwingt ihn - auch Joy kann das nicht verhindern -, in dem Auto mitzufahren, das die Bombe befördert und das von Joy gesteuert wird. Durch unvorhergesehene Umstände explodiert der Sprengkörper am falschen Ort und reißt Unschuldige in den Tod. Shane wird schwer verletzt und so entstellt, daß man ihn nicht wiedererkennt und mit einem seiner Freunde verwechselt, der bei dem Anschlag ums Leben kam. Dessen weitverzweigte Familie kümmert sich rührend um den Verletzten, besucht ihn täglich im Krankenhaus und pflegt ihn gesund. Shane McCabe hat quasi eine Metamorphose durchgemacht, eine neue Identität erhalten, und er wird einen Neubeginn versuchen.

Dieser Schluß des Romans, in seiner Schrecklichkeit, aber auch im Ausdruck aufkeimender Hoffnung, ist faszinierend gestaltet. Tagelang schwebt Shane McCabe zwischen Leben und Tod, zwischen Wachsein und Bewußtlosigkeit - und er fühlt die Urkräfte, die das Dasein ermöglichen. „Ich spürte, wie das Universum in sich verflochten war.“ Ihm werden die Augen geöffnet für die essentiellen Zusammenhänge, und er begreift, daß nicht Zwietracht und Terror Probleme lösen können, sondern Zusammenhalt und Solidarität, eigentliche Kräfte des Lebens.

Noch geht Patrick Quigley nicht so weit, daß ein Katholik im Körper eines Protestanten eine neue Identität findet, aber schon der Gedanke einer Metamorphose symbolisiert die Hoffnung auf positiven Wandel in einer zerstrittenen Nation.

Helmut Walther


© Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

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