Rezension

 

Wenn weniger mehr wäre ...

Kerstin Jentzsch: Ankunft der Pandora

Verlag Das Neue Berlin, Berlin 1996, 476 S.

 

Die 24jährige Lisa Meerbusch ist auf dem Weg nach Deutschland, muß das Dorf an Kretas Südküste verlassen, das eigentlich ihre Heimat werden sollte. Onkel Willi, das hat sie gerade erfahren, ist ihr richtiger Vater. Aber nun ist er tot, ermordet in Alexandria, im Mai 1991. Hinterlassen hat er ihr fast hunderttausend Mark in verschiedenen Währungen, die sie auf Schweizer Konten einzahlen soll, und Postmietbehälter in ihrer Ostberliner Wohnung, deren Inhalt sie noch nicht kennt.

Zwischen der Fahrt nach Berlin und der Beerdigung von Willi Meerbusch blickt sie zurück in die DDR-Vergangenheit. Und damit beginnt das Dilemma. Nicht so sehr das der Romanfigur Lisa Meerbusch, vielmehr das der Autorin Kerstin Jentzsch. Die versucht sich an einem episodenhaften Abriß deutscher und DDR-Geschichte von der Befreiung 1945 bis zur Nachwendezeit 1991. Doch irgendwie beschleicht mich ständig das Gefühl, daß sie unbedingt d e n großen deutschen Wenderoman schreiben wollte - und möglichst schnell, bevor ein anderer die Lorbeeren erntet.

Allerdings, mit einer im heutigen Journalismus gängigen „flotten Schreibe“ allein ist es eben nicht getan.

Die 1964 geborene Kerstin Jentzsch kann Befreiung und Befreier, die Kollektivierung auf dem Land, das geteilte Berlin vor dem Mauerbau ja nur vom Hörensagen kennen. Und so sind die Geschichtchen von der von Russen vergewaltigten jungen Mutter, dem jungen Deutschen in sowjetischer Offiziersuniform, der sie rettet, später „ganz oben“ im Berliner Ministerium für Staatssicherheit sitzt, vom verweigerten Eintritt in die LPG, nur klischeehafte Versatzstücke. Das wurde mehrfach schon packender und auch authentischer beschrieben.

Vom Lausbubenstreich mit Maikäfern à la Wilhelm Busch, fast zum Spionagefall hochgespielt, ganz zu schweigen. Ja, hätte es sich um Kartoffelkäfer gehandelt, die nach der damaligen Propaganda von den bösen amerikanischen Imperialisten von Flugzeugen aus auf die DDR-Felder gestreut worden waren, um die Ernte und somit den jungen antifaschistischen demokratischen Staat zu schädigen, da wäre ein solch von der Autorin beschriebenes Tribunal vorstellbar gewesen. Aber Maikäfer ...

Ganz schlimm wird es aber, wenn Frau Jentzsch ihr eigenes Pionier- und FDJ-Leben aus den siebziger und achtziger Jahren so mir nichts, dir nichts nach 1952 transponiert. Da läßt sie Mutter Lucie ihrem 12jährigen Sohn Willi ein rotes Halstuch umbinden, obwohl zu diesem Zeitpunkt das blaue Pioniertuch obligatorisch ist; auch das FDJ-Hemd galt keinesfalls als die feierliche Kleidung für die Abschlußprüfungen in der Grundschule, schon allein deshalb, weil nur verschwindend wenig Schüler der achten Klasse FDJler waren, zumal auf dem Dorf ... und aus Westberlin brachte man wohl kaum Matchbox-Autos mit, Renner waren zu jener Zeit Micky-Mouse-Hefte und Krimi-Schmöker, nicht umsonst wurden an den Schulen Kampagnen gegen die „Schundliteratur aus dem Westen“ gestartet. Kein Direktor, Bürgermeister oder Polizist hätte damals von „Klassenkollektiven“ oder gar „Arbeitslagern“ gesprochen.

Gründliche Recherchen scheinen nicht unbedingt Sache der Autorin zu sein. Denn nur so erklärt sich, daß sie die „Für Dich“, einzige Frauenzeitschrift der DDR, zum begehrten Modejournal deklariert. Und das, obwohl sie als Mitarbeiterin des Berliner Verlages deren letzte Tage noch miterlebt haben muß.

Bei soviel auffällig fehlerhaften Darstellungen verliert man irgendwann die Lust am Buch. Zumal dann auch die Themenfülle, ob Stasiverstrickungen, Frauenknast, Öko-Bauern gegen Gewerbegebiet, Treuhandquerelen - eben alles, was zur Zeit „in“ ist, ermüdend wirkt. Daß aus dem armen Ostberliner Mädel Lisa schließlich auch noch eine zigfache Millionärin wird, die nun ihr Leben getrost in griechischen Gefilden verbringen kann, setzt dem Ganzen dann noch die kitschige Krone auf. Offensichtlich hatten auch die Lektoren so ihre Mühe, denn zum Ende des Buches mehren sich dann auch noch technische Fehler. Da werden Sätze durch fehlende Wörter entstellt, an anderer Stelle zieht sich die Romanheldin Kletterschuhe, die sie gerade angezogen hatte, nach zwei kurzen Sätzen nochmals an.

Möglich, daß jüngere Leser sich an den Mängeln im vorliegenden Roman nicht stören. Für meinen Begriff, und das an Autorin und Lektorat gleichermaßen, wäre weniger mehr gewesen.

Sabine Graßmann


© Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

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