Rezension

 

Eine moderne Karriere-Frau in Israel

Batya Gur: So habe ich es mir nicht vorgestellt
Roman.

Aus dem Hebräischen von Mirjam Pressler.
Berlin Verlag A. Spitz, Berlin 1996, 479 S.

 

Der Prosa von israelischen Autoren, so von David Schütz, Meir Shalev, Yoram Kaniuk, Jehosha Kanaz, Aharon Appelfeld, Ephraim Kishon, bringt der deutsche Leser ein wachsendes Interesse entgegen. Die angeführten Autorennamen sind weniger der Erinnerung zugedacht, sie deuten an, daß die israelische Literatur wie auch in jedem anderen Land mehrheitlich durch die Werke von Männern bestimmt wird. Deshalb meine Neugier im besonderen, den Roman So habe ich es mir nicht vorgestellt von der in Israel gefeierten Krimi-Autorin Batya Gur zu lesen. Dieser Roman ist ihr fünftes Opus oder das erste, das nicht der Kriminalliteratur zuzuordnen ist. Die Schriftstellerin wurde in Tel Aviv geboren. Heute lebt sie in Jerusalem, arbeitete dort mehrere Jahre als Literaturdozentin. Gegenwärtig ist sie als Kritikerin bei der in Israel angesehensten Tageszeitung tätig. Batya Gur ist mit einem Psychoanalytiker verheiratet. Diese private Lebenserfahrung beeinflußt möglicherweise seit jeher ihre Romane; mit Vorliebe begründet sie die Entwicklungslinien ihrer Figuren aus Seelenzuständen und aus den ihnen eigenen Verhaltensstereotypen. Darauf verweist bereits der Titel, das vorangestellte Zitat aus dem Gedicht von Natan Zach: „So habe ich es mir nicht vorgestellt, daß die Dinge so sind. Pläne, Träume - und plötzlich eine Biegung im Weg“ und natürlich die Handlung des vorliegenden Romans.

Die Hauptgestalt des Romans, die Gynäkologin Dr. Goldschmidt, Jo’ela ist zornig über solch eine unverhoffte Biegung auf dem Lebensweg. Ihr Leben war bisher rational durchdacht, organisiert und reibungslos verlaufen, es verlief in Form einer aufsteigenden Linie: Sie ist eine anerkannte Ärztin, ihre Ehe verläuft unproblematisch, die drei Kinder sind wohlgestaltet und wohlgeraten, und demnächst wird sie nun auch zur Chefärztin der gynäkologischen Abteilung des Krankenhauses berufen. Zweifel am Sinn ihres karriere- und pflichtbewußten Daseins kennt Jo’ela nicht. Jeder Tag, ob im Beruf oder in der Familie, bestätigt ihr die erworbene Anerkennung. Jeder ihrer Auftritte, ob am OP-Tisch oder am Krankenbett, sind geplant. Widerspruch ist nicht eingeplant. Ihr Leben ist ein geschlossenes System, das jede Störung von außen vorausschauend meidet. Die Autorin, die als Beobachterin eine sympathisierende Identifikation mit Jo'ela nicht verhehlt, schreibt ihr eine „seltene Intuition“ zu. - Stets das Richtige zu tun, indem sie niemals „ein Wort zuviel sagt“: „Man muß energisch und autoritär sein und jedes Mitgefühl beiseite schieben.“ (S. 9)

In Bewegung scheint dieses Lebenskonstrukt durch drei unerwartete Konfrontationen zu geraten, sie rütteln am „Käfig des Fleisches“: Es ist die Begegnung mit dem Dokfilmer Jo'el. Ein Mann, der erste, der ihre Sinnlichkeit herausfordert und nicht ihre Tüchtigkeit begehrt. Dann taucht das verfemte Mädchen aus der unbekannten Jerusalemer Welt des ultraorthodoxen Judentums auf. Es hat physiologische Anomalien, weshalb sie niemals gebärfähig sein wird. Auf Zuspruch des Rabbis wird es irgendwo auf das Land abgeschoben, obgleich sie medizinischer Hilfe bedarf. Und da ist schließlich die Konfrontation mit dem bislang geschätzten Studienfreund und Kollegen. Er entpuppt sich ihr gegenüber als intriganter Karrierist. Doch das Rütteln am „Käfig des Fleisches“ ist nicht allzu heftig, wie es der Verlagswerbetext ankündigt. Zwar verläßt Jo’ela kurzzeitig den Käfig, unterbricht erstmals den routinierten Alltag zwischen Beruf und Familie, begibt sich auf die Suche nach ihrer Seele, doch vergeblich. Es bleibt bei wenigen Erkundungen und Ahnungen, daß das Leben auch ganz anders verlaufen könnte.

Zuweilen hatte ich Mühe, diesen Roman aufmerksam zu lesen. Ich vermißte den Spannungsbogen der gelebten Jahre zwischen Kindheit und der nun 43jährigen Heldin. Unbeantwortet bleibt deshalb, wie und warum aus dem einst lesehungrigen, phantasievollen, aber einsamen Kind die tüchtige, disziplinierte, bindungsunfähige, eine nur der Vernunft gehorchende Frau wurde. Die kurzen Ausflüge in die Seelenlandschaft der kindlichen Protagonistin können diesen Spannungsbogen nicht ersetzen. Bereits als kleines Mädchen von acht Jahren spürte sie keine wirkliche Nähe zu ihren Eltern, sie beobachtete sie lauernd, verborgen hinter ihren Büchern. Die Mutter ist von großer Schönheit, und der Vater erwähnte einmal beiläufig, daß diese ihr einige Male das Leben gerettet habe. Mehr weiß das Kind nicht über ihre Vergangenheit und stellt auch niemals Fragen. Jo'ela erinnert sich aber sehr genau daran, daß sie sich vor der Mutter fürchtete. Sie ängstigte sich vor ihren intensiven blauen Augen mit den „alles sehenden Blicken“, die „nie nachgeben“. Und sie erinnert sich, daß die Eltern sehr häufig abends ausgegangen sind und sie „den Säugling“, ihren Bruder, zu behüten hatte. Nach der Rückkehr von Vater und Mutter hörte sie aus dem Schlafzimmer nächtlich gemurmelte Worte „in ihrer Sprache“ (jiddisch). Jo'ela überlegte dann: „Man könnte aufstehen und zu ihnen gehen, wenn man wollte. Aber sie ist hier mit sich allein.“ (S. 59) Die Eltern bleiben ihr fremd. Nach dem Schulabschluß ist die endgültige Lösung vom Elternhaus für das Mädchen selbstverständlich. Ich wunderte mich, warum Jo’ela nicht in ihre Welt einbezogen wurde.

Erst fast am Ende des Romans folgt schließlich eine Episode, die mich zu Fragen nach möglichen Hintergründen für diese Fremdheit zwischen den Eltern und der Tochter, nach dem inneren Entwicklungsweg der Heldin führte: Jahre nach dem Tod des Vaters geht sie unwillig mit ihrer Mutter auf den Friedhof. Sie vermied es bisher, bis auf eine Ausnahme, mit ihren schon fast erwachsenen Kindern dorthin zu gehen. Denn sie schämt sich, daß auf dem Grabstein neben dem Geburtsdatum „aus Lwow“ steht. „Am liebsten würde sie diese Betonung der Herkunft zerstören, die so lächerlich ist wie die Liebeshymnen auf Trauerkarten, doch zugleich ist sie sich gram wegen dieser Scham, ihre Mutter hat so wenig Grund zur Freude, man muß ihr verzeihen, auch wenn ihre Bedürfnisse gegen den guten Geschmack verstoßen ...“ (S. 407) Hat sich Jo’ela ihrer Eltern seit der Kindheit geschämt? Will die Autorin mit dieser Episode eine Besonderheit eines nationalen, weil israelischen Generationskonfliktes andeuten? Steht die Figur Jo’ela für die jungen Generationen vergangener Jahrzehnte, die sich für die nach dem Ende des Hitler-Reiches eingewanderten Alten schämten? Erzählt die Friedhofsszene über die Scham der Jungen für die Eltern und Verwandten, die als Überlebende des Holocaust und nicht als heldenhafte Widerständler gegen das Nazi-Deutschland in das Heilige Land kamen? Scham darüber, daß sie sich wie ,willenlose Lämmer’ in die Konzentrationslager hatten treiben lassen. Und auch deshalb, weil sie bei Ankunft nur mit geringen physischen und geistigen Kräften den Aufbau des 1948 gegründeten Staates Israel unterstützen konnten. Oder ist Jo‘,ela eine von den Jungen, die von den Alteingesessenen die „fixe Idee“ übernommen hatten, „daß nur die ,schlechtesten Elemente des jüdischen Volkes’ im Lager überleben konnten“, wie es der Jerusalemer Historiker Tom Segev thematisiert.

Vielleicht hatte Batya Gur im Sinn, mit Jo’elas Frauenschicksal über diese bitteren Wahrheiten zu schreiben. Nur, Andeutungen - und diese gestreut in einen Roman, der eher der Unterhaltungsliteratur zuzuordnen ist - stiften beim Leser fern von Israel Verwirrung. Auf die Ebene der Unterhaltungsliteratur stufte offenbar auch der Verlag diesen Roman ein, die Verlagstexte und die Umschlaggrafik stimmen auf dieses Genre ein.

Die Lebensgeschichte der Gynäkologin Dr. Goldschmidt, Jo’ela, endet wie begonnen: Mit ärztlicher Intuition rettet sie im letzten Moment einem ungeborenen Kind das Leben. „Sie tat das Übliche, das Normale.“ Der Dokfilmer ist wie eine Gewitterwolke verschwunden, daß verfemte Mädchen lebt nach wie vor irgendwo auf dem Land, und der intrigante Kollege bewundert wieder die Tüchtigkeit und Geschicklichkeit Jo’elas, so daß ihrer baldigen Berufung als Chefärztin nichts mehr im Wege stehen wird.

Die Welt einer Ärztin, so weiß die Autorin, basiert auf Ordnung und Ratio. Mag sein. Nur die Botschaft eines Romans von Batya Gur über den Lebensweg einer Frau im heutigen Israel hatte ich mir so nicht vorgestellt.

Beate Reisch


© Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

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