Rezension

 

Drei Frauenschicksale - Ein Jahrhundert

Marianne Fredriksson: Hannas Töchter
Roman.

Aus dem Schwedischen von Senta Kapoun.
Wolfgang Krüger Verlag, Frankfurt/M. 1997, 384 S.

 

Anna (60), Wissenschaftlerin und Schriftstellerin, verheiratet, zwei Kinder, steht 1987 in Göteborg in einem Pflegeheim am Totenbett ihrer Mutter Johanna (85). Sie verfällt ins Grübeln, denkt über das schnell verflogene Leben nach, stößt auf biographische Aufzeichnungen der Mutter und auf Fotos ihrer Großmutter Hanna (1871-1964). So entstehen Lebensberichte dieser drei Frauen, die auch einen Blick auf ein Jahrhundert schwedischer Geschichte gewähren.

Am stärksten interessiert den Leser meist das, was ihm am fernsten und fremdesten ist - in diesem Falle die Geschichte Hannas. Sie wird auch am dichtesten erzählt. Hanna lebte im dünnbesiedelten Nordschweden, hart an der norwegischen Grenze, wo Kinder in Notjahren noch verhungerten, wo Aberglaube herrschte, der Runenmeister mit seinem Hexenweib umging, wo Wunderheiler, mit dem zweiten Gesicht begabt, wirkten, die den Tod auf mehr als zehn Jahre vorauszusehen vermochten, und wo man sich bei drohenden kriegerischen Auseinandersetzungen (die Unionskrise mit Norwegen 1905 fiel in diese Zeit) einfach in eine Höhle zurückzog. Ein Spiegel war eine sündhafte Neuerung für die verzweifelt schamhaften Menschen, die Petroleumlampe galt als unfaßbarer Fortschritt, das erste Automobil warf die Menschen einfach um, und langsam entvölkerte sich der Landstrich, weil die Leute nach Norwegen, Stockholm oder Amerika zogen. Hier also mußte sich Hanna im Alter von 12 Jahren bei Bauern als Magd verdingen, hier wurde sie vom Jungbauern brutal vergewaltigt, hier kam sie im Alter von 13 Jahren mit einem Sohne nieder. Sie galt fortan als Hure und Ragnar als Bastard. Da war es Erlösung, als sie der zuziehende Müller John Broman, ein Mann von schon mehr als vierzig Jahren, zum Weib nahm und Ragnar ehrlich machte. Als Broman starb, sie war noch nicht mal vierzig, zog sie zu Ragnar nach Göteborg, lernte dort elektrisches Licht und Fließwasser kennen, fand Arbeit in einer Dampfbäckerei, wurde aber in der Stadt, ungebildet, altmodisch und unbeweglich im Denken und Urteilen, untertänig Gott und der Obrigkeit, nie so recht heimisch. Voller Mißtrauen gegenüber allem, was andersartig, aufsässig, unbekümmert und neu war, schleppte sie sich nach einem arbeits- und entbehrungsreichen Leben (sie hatte fünf Kindern das Leben gegeben und vier Fehlgeburten erlitten) der Rente entgegen. Als die kleine Pension ausgezahlt wurde, meinte sie: „Es ist eine Schande, wenn man Geld kriegt, was man nicht verdient hat.“

Das Schicksal von Johanna und Anna ist unspektakulärer. Johanna, ein aufgewecktes, kluges Kind, das gut lernte, war Bromans ganzes Glück, wurde sehr verwöhnt vom Vater, der aber starb, als sie erst acht Jahre alt war. In der Stadt als Dienstmädchen in eine gutbürgerliche Familie gegeben, wehrt sie einen Vergewaltigungsversuch kräftig und entschieden ab. Sie findet Arbeit in der Markthalle, Kollegen und Mitstreiter und in dem Werkmeister Arne von der Werft einen Mann, der weder säuft, noch hurt, der politisch klarsichtig, energisch und intelligent und mit goldenen Händen begabt ist. Beide wurden in der Sozialdemokratie aktiv, beide kämpften in der Gewerkschaft für bessere Lebensbedingungen, hatten schließlich ein Häuschen am Meer, ein Segelboot, ein altes Auto. Die Rezession ging an ihnen vorbei, aber dann kamen jüdische Flüchtlinge ins Land, die jüdischen Nachbarn flohen nach Amerika. Norwegen und Dänemark wurden von den Deutschen besetzt, und Schweden kämpfte verzweifelt um seine brüchige Neutralität. Arne wurde Soldat, und Johanna litt unter der Kluft zu ihrer Tochter Anna, die in die Intelligenz aufgestiegen war.

Anna, ein stolzes, schönes und politisch aktives Mädchen, das Gymnasium und Studium durchlief (sollte sie doch alles erhalten, was den Eltern nicht vergönnt worden war), hatte schon früh, schlagfertig und wortgewandt wie sie war, einen akademischen Schutzwall um sich errichtet. Der Reporter Rickard Hard hatte ihn mit seinem Charme und seiner Wärme, seiner Neugier und seinem Humor, seinen gewinnenden Geschichten und seinem ansteckendem Lachen niedergerissen, er war ihr Mann geworden. Aber Rickard war auch ein Schürzenjäger, der nicht die Treue hielt. Anna war gerade mit einer Tochter niedergekommen, als sie erfuhr, daß Rickard seit Monaten ein Verhältnis mit einer Kollegin hatte. Im Universitätswesen erfahren, in Redaktionen bekannt, als Buchautorin unabhängig, bestand sie auf Scheidung. Ein gewöhnliches Frauenleben also, mit viel Unruhe und harter Arbeit, mit großer Freude und tiefen Enttäuschungen, vielen Siegen und vielen Niederlagen ...

Anna begibt sich auf die Suche nach ihren Vorfahrinnen, um zu sich selbst zu finden. Sie ortet das Mutter-Tochter-Verhältnis und auch ihre eigenen Beziehungen zu den Männern. Das Ergebnis schätzt sie selbst nicht hoch ein: „Was wollte ich mit dieser Reise durch drei Frauenleben? Wollte ich nach Hause finden? In dem Fall ist es mir mißlungen. Es gab kein Zuhause ... Alles bestand aus vielen kleinen Einzelheiten, und zwar so widerspruchsvoll ... Ich weiß nicht einmal, ob ich jetzt besser verstehe. Aber ich habe viel gelernt.“

Das könnte auch das Resümee des Lesers sein. Marianne Fredriksson (70) - ursprünglich Journalistin, seit 1980 hat sie zehn erfolgreiche Romane veröffentlicht - ist eine gute Erzählerin, alles andere als weitschweifig. Holzschnittartig entwirft sie ihre Tableaus, in poetisch-kräftiger Sprache. Aber die Ereignisse fließen fast wie im Leben: rasch, beinahe zufällig, gleichförmig, ohne jene vertiefenden Ruhe- und Schwerpunkte, welche die Literatur eigentlich setzt. Wenn Hanna den Mann verliert, so wird das nur mit zwei Zeilen vermeldet: „Als der erste Herbststurm die Blätter von den Bäumen riß, hustete John Broman sich zu Tode.“ Und im Lebensbericht Johannas nehmen tiefgreifende Ereignisse wie der Tod der Mutter und des Bruders nur verschwindenden Raum ein: („Im Oktober starb Mutter ... Arne regelte alles mit dem Begräbnis ... Sie wurde an einem Freitag beerdigt. Ragnar hielt die Grabrede. Am Samstag war er tot, versehentlich auf der Jagd erschossen. Da wurde ich krank ... Magengeschwüre, Operation.“) Da bleibt vieles eindimensional, eben nur ein Bericht, der von einem Ereignis zum anderen springt. Da fehlen oft Tiefe, Ausführlichkeit und Anschaulichkeit, die normalerweise dem Roman eigen sind, das Ausmalen der Situation, das sie unverwechselbar macht und dem Leser das Dabeisein und Miterleben ermöglicht. Hinzu kommt, daß sich die Erzählung auf die drei Frauen konzentriert; darüber hinaus erhalten höchstens die jeweiligen Lebenspartner und ein paar Ausnahmen wie Ragnar oder Astrid Profil, alle anderen Figuren sind charakterlich wenig profiliert. Auch, daß sich die drei Lebensgeschichten verflechten, kompliziert die Lektüre. Man liest das nicht ohne Gewinn und mit Interesse, man lernt schon dazu, was die Lebensverhältnisse angeht in einem anderen Land und zu anderen Zeiten, aber die Nachhaltigkeit, Tiefenwirkung und Erschütterung des großen Erlebnisses bleibt doch aus. Warmherzig und einfühlsam, sensibel und wahrhaftig ist das Buch gewiß, atemberaubend aber, „Ein Buch zum Verschlingen“, wie eine schwedische Rezension befand, sicher nicht.

Hans-Rainer John


© Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

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