Rezension

 

Glück und Elend der Parasiten

Hans Magnus Enzensberger: Voltaires Neffe
Eine Fälschung in Diderots Manier.

Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M. 1996, 71 S.

 

Georg Christoph Lichtenberg schrieb vor mehr als zweihundert Jahren:

„Wir fressen einander nicht, wir schlachten uns bloß.“ Aufklärung, ein gar zu oft mißverstandenes Geschäft zwischen Menschen aus unterschiedlichen Verhältnissen, ist auch mit solchen Sätzen begreifbar. Denn das allemal Unbegreifliche kann nicht in Programme gezwängt werden. Das ist auch Hans Magnus Enzensberger, dem Lyriker, Essayisten und Stückeschreiber, immer wieder aufgefallen. Anfang der achtziger Jahre schrieb er das Gedicht „Die Parasiten“, dort trifft er auf Bekannte, „... wundert sich. / Strauchelnde sind es, ineinander verwickelt. / Notwendig, überflüssig: ja, wer das / unterscheiden könnte! Produktiv, unproduktiv: / nicht mehr so einfach wie früher. / Und selber fragt man sich oft, ob hier / noch einer nötig ist, irgendeiner, z. B. / der Parasit, der schräg gegenüber / groß an die Wand malt: Fort mit den Parasiten!“

Ätzender ist selten das klapprige Los der geschäftigen Intellektuellen bezeichnet worden. Seit Jahren schon stellt Enzensberger eine große Nähe zu dem Mann fest, der ihm die erste wichtige Figur der Aufklärung überhaupt ist: Denis Diderot. Anfang der achtziger Jahre deutete er mit dem Stück Der Menschenfreund nicht nur Diderots Komödie, er stellte ganz dringlich auch die Frage nach Rolle und Stellung, Sinn oder Unsinn des Intellektuellen in der Welt. Im Nachwort zur Komödie Der Menschenfreund fragte Enzensberger: „Was ein Dachdecker, ein Fluglotse, ein Zahntechniker zu tun hat, läßt sich zweifelsfrei angeben, aber ein Intellektueller?“

Schlüssige Antworten auf diese Frage gibt zum Glück auch Enzensberger nicht. Denn er will ja kein Utopist sein. In der Rolle des Nothelfers wurde und wird der Intellektuelle gern gesehen, als einer, der gegen Mißstände antritt, um den Armen und Unterdrückten, Erniedrigten und Beleidigten beizustehen. Doch Enzensberger warnte schon damals eindringlich: „Wir wissen nur allzugut, wohin dieses edle Bestreben im Lauf der letzten zweihundert Jahre geführt hat: zu umwälzenden Veränderungen, die kein Mensch den unbewaffneten Eierköpfen zugetraut hätte, aber auch zu moralischer Selbstüberforderung und Pharisäertum, Heuchelei und Dogmatismus, Selbstgefälligkeit und Besserwisserei.“

Das Thema bleibt virulent. Zu allen Zeiten. Oft werden die Rollen nur gewechselt. Hans Magnus Enzensberger, geplagt von andauerndem Größenwahn moralisierender Intellektueller unterschiedlichster Prägung, hat ein neues Stück geschrieben. Frei nach dem berühmten Dialog in Rameaus Neffe, der - 1761 entstanden - schon Goethe ein Rätsel aufgab. Ein Text, der verführerisch zu allen Zeiten, weil gespickt mit Anspielungen, von denen nie alle ganz verstanden, die meisten aber jederzeit nachvollziehbar sind. Enzensbergers Version, kürzer und viel verknappter im Dialog, trägt den Titel Voltaires Neffe und macht sogleich im Titel einen schönen Flügelschlag sichtbar. Es ist ein Spiel mit Fälschung und Verstellung, ein brillanter Rollensprung, denn einmal ist der Neffe ein Schurke, ein Lügner und Parasit, dann wieder die Figur des Philosophen, der die List und Hinterhältigkeit des Neffen Voltaires attackiert, selbst aber verstiegen genug ist, um auch in den engeren Bezirk der „Parasiten“ aufgenommen zu werden.

Das Stück lebt zunächst von der Tatsache, daß der Narr und Bestienunterhalter, der Neffe nämlich, auf dem Parkett seiner Künste ausgerutscht ist. „Einmal im Leben nicht aufgepaßt“, heißt es im Text, schon zweifelt er an seinen Fähigkeiten, die ihn zum gefragten Unterhalter, Ignoranten, Verrückten und Schuft machten. So hat der Neffe allen Grund, über das Mittelmäßige im allgemeinen und speziell in seiner Brust zu klagen. Er schwadroniert: „Nichts lese ich lieber, als wenn irgendein blöder Rezensent die großen Männer verreißt. Nichts höre ich lieber als Klatschgeschichten über ihre Laster, ihre Krankheiten, ihre Niederlagen. Dann ertrage ich es leichter, daß aus mir nichts geworden ist.“

Das Stück spielt diesen Neffen ganz herunter, doch ganz erstaunlich anzusehen, wie derselbe auch wieder aufersteht, neu aufgebaut wird, wozu ihn der Philosoph, der quasi Berufs-Intellektuelle im Gegensatz zum Laien-Intellektuellen (denn der Neffe blickt durchaus scharf in den Abgrund seiner „Menagerie“), verhilft. Längst weiß der Neffe, denn es ist sein Geschäft, daß man die Leute im Zirkus Leben verblüffen muß, mehr noch: „Bis aufs Blut müssen Sie sie reizen.“ Es ist wenig, wenn daraufhin der Philosoph den Neffen einen Parasiten nennt, denn der kontert: bitte, er sei nur der Vertreter einer reichverzweigten Gilde im Staat, auch das Volk lebt von, durch und mit Parasiten. Mehr und mehr wird in diesem Spiel der Verstellung, der Rollenverschiebung, auch der Neffe zum einsichtigen Kritiker all dessen, was er amüsiert kolportiert. Und er weiß, woher der Reichtum der Diplomaten und aller anderen kommt: „Man spekuliert, man erbt, man bringt das Geld der andern durch.“ In der Mitte des Stückes wird ein Kulminationspunkt erreicht, der Neffe fragt, beständig die Zusammenhänge im Zirkus Leben und Gesellschaft erklärend, wer denn eigentlich von beiden hier der Philosoph sei. Die Frage ist ein pikanter Pfeil, denn sie macht die Antwort nun noch schwerer, wer das sein könnte. Von Tugend, Herrschaft des Pöbels, von der Leidensmiene der „ordentlichen Leute“, von Unredlichkeit und Aufklärung läßt sich lange und ausschweifend reden. Doch handeln, das ist etwas ganz anderes. Vorerst gilt dem Neffen die Einsicht: Narr kann jeder sein, auch Narr eines Narren.

Im Stück wird manches genau benannt, denn auch bitterer Ernst ist im Spiel. In Diderots und Voltaires Zeiten mordete „Europa“ kalt die Neger, verfocht aber lauthals auf der Bühne der Aufklärung „erhabene Grundsätze“. Enzensberger scheut sich nicht, noch deutlicher zu werden. Blutdurst und Gier nach Geld bestimmen das Handeln der „Europäer“, genauer: sind das Motiv der handelnden Europäer. Sind sie einmal ganz unter sich, ins intime Gespräch vertieft wie der Neffe mit dem Philosophen, schrecken sie auch nicht zurück vor Erpressung und Verleumdung. Denn es stellt sich im Gespräch heraus, daß auch der Philosoph, der gegen die Übel der Sklaverei wettert, Teilhaber an diesem Handel ist. Sie peitschen sich beide einander bis aufs Blut gefügig, im erdachten Ernstfall wuchern die schrillsten Drohgebärden. Nach völliger Überreizung setzt wieder Milderung ein. Zwar einigt man sich darauf, daß alles, fast alles, nur Spiel war, doch das Elend des Philosophen ist größer noch als das des Neffen, der wieder aufs Parkett der närrischen Unterhaltung gerufen wird, damit sich sein „Hamsterrad“ noch schneller als zuvor drehe.

Der Philosoph verabschiedet sich mit den Worten: „Das ist ja das Fatale, Sie und ich, wir bleiben, was wir sind.“ Und der Neffe, seiner Rolle wieder ganz gewiß, kontert: „Warum auch nicht, Herr Philosoph? Solange es geht, wollen wir unser Unglück genießen.“

Damit endet der Text des Stückes, noch bevor der Vorhang fällt, verlassen die historischen Figuren, die pantomimisch im Hintergrund agierten, die Bühne: „Doch nun tragen sie moderne Anzüge und sehen heutigen Staatsmännern, Bankern und Beratern so ähnlich wie nur möglich; es schadet nicht, wenn einige von ihnen wiederzuerkennen sind.“

Die „Fälschung in Diderots Manier“ ist zu Ende, doch das Stück, das gespielt wurde, ist noch lange nicht vorbei.

Helmut Hirsch


© Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

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