Rezension

Postkarte genügt

 

„Jurek Beckers Neuigkeiten“ an Manfred Krug & Otti

Econ-Verlag, Düsseldorf 1997, 233 S.

 

Ach, das sind immer sone Worte. Liebe. Freundschaft. Zuneigung.
So verschwommen.
Und dann kriegt es eine Form:
Postkarte genügt.
Viele Postkarten machen ein Buch.
Soviel Wärme und selbstverständliche Übereinkunft, liebevolle Ironie und Nähe in der Ferne ...

Ein leichtes Spiel mit Worten. Aus der Sprache des Alltags entsteht der funkelnde Rahmen für eine Freundschaft. „In Wahrheit sind es kleine Kunstwerke“ schreibt Krug dem Buche vorweg und „die Postkarten gehören zum Schönsten, was Jurek geschrieben hat“.

Wer was über Menschen, speziell über die Menschen Becker und Krug erfahren will, über eine Freundschaft, bis daß der Tod sie scheidet - der muß dieses Buch lesen. Beliebig aufgeblättert: Eine Karte aus Portugal, 13. 8. 1986. Becker macht dem Sammler Krug das Maul wässrig: „Mein Herzensfreund, heute habe ich besonders unter Deiner Abwesenheit gelitten: als ich an einem kleinen Laden vorbeikam, in dem gebrauchte, zumeist alte Fotoapparate verkauft wurden. Der kleine Mann dort sah aus, als würde er schon lange auf Dich warten und nicht mehr lange durchhalten. Es lieben und küssen Dich bzw. Euch Jurek und Christine.“ Aus Austin, Texas, 21. 9. 87, grüßt das Paar in Liebe, und teilt zuvor den Lieben in Berlin mit, „gestern abend, als wir einen scheußlichen Film im Fernsehen sahen, wurde mir plötzlich klar, daß Manfred mein Lieblingsschauspieler ist. Sowas darf man sich doch nicht verschweigen!“

Sie haben sich nichts verschwiegen in den 40 Jahren, in denen sie sich „ganz dicht an sich herangelassen“ haben. Freundschaft „ist ein kontinuierlicher Prozeß. Mit jedem Jahr, das man älter wird, spürt man, daß man weniger treue, echte Freunde erringen wird. Am dichtesten läßt man die Menschen an sich heran, wenn man jung ist (...)“ (Krug im „Spiegel“ 34/1997).

„Es war quasi Liebe“, damals, als sich die zwei 1956 in der „Klub junger Künstler“ genannten Bar in der Ostberliner Klosterstraße zum ersten Mal übern Weg liefen und ins Reden kamen und nicht mehr aufhörten damit, an diesem Abend nicht und überhaupt. Manfred Krug, Stahlwerker, Schauspieleleve am BE, gerade wegen „disziplinarischer Schwierigkeiten“ von der Schauspielschule geflogen, und Jurek Becker, Abiturient, der ein Jahr später Mitglied der SED und Philosophiestudent an der Humboldt-Universität werden wird - sie waren ein „verspieltes Duo, brüderlich verbunden. Er hat mir vieles gegeben, was ich nicht hatte: seine jüdische Art von Humor, seinen Geist. Dafür hatte ich den etwas derberen Humor der preußischen Art zu bieten. Jurek war einerseits komischer, andererseits ernsthafter als ich. Er nahm die Politik wichtiger. (...) Er war kein Bohemien, der sich in den Bars auf der Suche nach Abenteuern herumtrieb. Er war immer eine Stunde früher zu Hause.“ Als sie sich kennenlernten, wurde es für beide ziemlich spät - und natürlich hatte keiner ein Stück Papier dabei, um sich mit einem Bleistiftstummel die Adressen zu notieren. Der praktische Krug kritzelte die Becker-Anschrift auf eine Wand (und schrieb sie am nächsten Tag ab), Becker setzte auf sein Gedächtnis. Das funktionierte. Bald darauf besuchte er Krug in seiner Bude. Sie waren 19 Jahre alt und von da an unzertrennlich.

Eine Geschichte, wie gut erfunden, filmreif und so legendär wie der Satz aus „Casablanca“ von dem Beginn einer wunderbaren Freundschaft. „Drei Jahre später zogen wir in einen ehemaligen Gewürzladen in der Cantianstraße, wo wir etwa fünf Jahre wohnten.“

Aus der frühen Karten-Periode sind einige Stücke erhalten geblieben. So erhält „Brüderchen“ Manfred vom „Bruder“ Jurek Botschaften aus der Sphäre der sozialistischen Landwirtschaft, wo auch Philosophiestudenten Kartoffeln aus schlammiger Erde buddeln - „soviel geerntet wie hier, habe ich noch nie. So wenig gedacht wie hier, habe ich noch nie. So faul zum Schreiben wie hier, war ich noch nie.“ Oder ein netter Gruß vom Stabsgefreiten Becker an den Zivilisten Krug, geschrieben während einer Politvorlesung. Mitteilungen über im Reservistenlehrgang klaglos ertragene schlecht gefederte Betten und der Hinweis an Krug, daß Postanschriften an den „ehrenwerten Herrn Stabsgefreiten“ das Humorverständnis der Armee restlos überfordern. Und dann ist Becker wieder in Berlin. Während Manfred Krug zu Dreharbeiten für den Film „Fünf Patronenhülsen“ nach Bulgarien und in den Harz reist, kümmert sich Jurek ums Nötige: „Die Wohnung! Eine optimistische Trägödie“, die sich schließlich zu einer bewohnbaren Bude entwickelt. Man wohnt nun, und hat, wie Krug in einem der Zwischentexte informiert, zu tun. „Jurek war ein begehrter Drehbuchautor geworden, ich ein gut beschäftigter Schauspieler. (...) Jurek war inzwischen mit Rieke verheiratet, sein Sohn Nikolaus war auf der Welt, Leonard unterwegs. Sie wohnten in einem kleinen Einfamilienhaus am Stadtrand. Ich drehte alles, was ich kriegen konnte, denn wir waren dabei, ein kriegsbeschädigtes Haus in Pankow zu kaufen.“ 30 Kilometer standen die Häuser auseinander - fast ein Grund zum Kartenschreiben, wenn es nicht feste Regeln gegeben hätte, „wer wen wann besuchen mußte“. Kartenpause.

Sprung von 1964 ins Jahr 1976. Jurek Becker schreibt wieder Karten - aus dem „nichtsozialistischen Ausland“. Dichterreisen, Beobachtungen aus „Westdeutschland, 17. 9. 1976. Der sterbende Kapitalismus kann uns nicht täuschen, auch wenn er nur Sonntagskleider trägt. Der Zusammenbruch ist nur eine Frage der Zeit, auch meiner, die Koffer sind so schwer. Jurek und Rieke in Liebe.“ Heutiger Kommentar von Krug: „Zusammengebrochen war eben nicht der Kapitalismus, sondern der Sozialismus, für dessen Sieg wir uns einst ins Zeug gelegt und auf dessen Erfolg wir von Jugend an unsere Hoffnungen gesetzt hatten. (...)“ Die Ausbürgerung Biermanns im November 1976 ist für viele der Punkt hinter allen Hoffnungen. Manfred Krug stellt den Antrag auf Ausreise - am Montag, dem 20. Juni 1977, verläßt er die DDR. Über den Abschied von Jurek Becker notiert ein IM: Nach 15 min kam Becker weinend aus dem Atelier gestürmt und verschwand sofort. In der Nacht zuvor habe der B. geäußert, er gebe sich höchstens noch 4 Wochen, dann packe er ebenfalls. Er tritt aus der Partei und Schriftstellerverband aus. Zusammengebrochen war auch seine Ehe mit Rieke. Jurek Becker geht.

Über seine DDR-Zeit wird Jurek Becker in dem letzten Interview seines Lebens sagen: „Alles in allem war meine Zeit in der DDR gut. Ich war ziemlich lange das, was man
einen überzeugten Sozialisten nennt, und ich war der Überzeugung, in der DDR bemüht man sich um diese Sache. Als in meinen Kopf kam, daß man sich auf eine fatale Weise um diese Sache bemüht, ist die Distanz zur DDR gewachsen. (...) Ich hätte mir gewünscht, daß die DDR mehr Erfolg gehabt hätte, daß das nicht so miserabel gemanagt worden wäre, daß nicht alles so ungedacht geblieben wäre und so unausgegoren und verlogen und korrupt. Daß die DDR untergegangen ist, darum ist es nicht schade, diese DDR hatte es nicht besser verdient. Aber daß das, was die DDR hätte sein können, nach meiner Vermutung, untergegangen ist, darum tut es mir sehr leid.“(„Der Spiegel“ 13/1997)

1978 nimmt er eine Gastprofessur in Amerika an. Räumliche Distanz zur DDR und immer mal wieder eine Erinnerung wie „Kanada macht auf mich irgendwie den Eindruck, als wäre eine DDR-Firma beauftragt worden, USA-Verhältnisse hier einzuführen. Das macht es mir leicht, mich gut zu fühlen.“ Seine Karten werden mehr und mehr zu kunstvollen Inszenierungen. Aus der bunten Einfalt des Ansichtskartenuniversums zieht er für seine „liebsten Krugs“ geschmäcklerisch feinste Exemplare heraus und verleiht ihnen durch beziehungsreiche Texte sinngebende, urkomische Wirkung. Das Beckersche Postkartenwesen entwickelt sich prächtig, gleich, nachdem Krugs Frau Ottilie mit dem Sammeln beginnt. Da geht es so richtig los: „Liebes Ottilchen, wenn Du glaubst, jetzt gehen uns langsam die Scheußlichkeiten aus, dann bist Du schief gewickelt.“ Das Vergnügen ist auf allen Seiten. Becker schüttet Witz und Geist und Liebe in immer neuen Wortverkleidungen über seine Freunde, meldet Athmosphärisches aus fernen (China) und nicht ganz so fernen (Hannover) Orten, macht hinreißende Selbstbeschreibungen - und immer bezieht er den Adressaten ein in das Mitteilungsspiel. Der Absender ist ohne den Empfänger nicht denkbar. Allein die An-Sprachen an die „schwerstvermißten Freunde“, diese „nicht genug zu verehrenden Lieben“, „Ihr Tautropfen an unseren Lotosblüten“, “Ihr unser Entzücken“. Krug schreibt, „man könnte aus all den, wenn auch ironischen, Floskeln der Zuneigung und Wertschätzung, die Jurek auf dem engen Platz seiner Postkarten unterbringt, den Schluß ziehen, er habe unsere Sehnsucht nach dem Geliebtwerden herausgefunden und versehe quasi einen Dienst an uns. Das wäre nur zu einem, dem kleineren Teil wahr. Ihm ist nämlich aufgefallen, daß es nur wenige Menschen gibt, die seine Leidenschaft des Liebeverschüttens mit solcher Leichtigkeit und so folgenlos über sich ergehen lassen konnten wie wir.“ Und die auf diese Weise teilnehmen an allerlei Erfahrungen wie „die Leute in der West-Schweiz haben eine merkwürdige Angewohnheit - sie unterhalten sich während der Lesung. Nach einer kurzen Irritation habe ich nicht weiter darauf geachtet, zum Schluß fand ich es sogar ganz angenehm.“ Oder die von Becker aus Brasilien liebstens gefragt werden, „stimmt es eigentlich, daß die Wiedervereinigung wieder rückgängig gemacht werden soll?“ wegen des vielen Unfriedens, habe er im Fernsehen gehört.

Er schickt dem „Serienlord“ 1993 einen freudigen Vierzeiler anläßlich des baldigen Endes von „Liebling Kreuzberg“ („zwei Folgen noch geht das so fort, und dann ist endlich Ruhe“). Natürlich weiß Krug, daß Becker „mit sich haderte, ob er nun zu den Unterhaltungsfuzzis abgleiten oder Schriftsteller bleiben sollte“. Trotzdem schreibt Becker dem Freund noch 18 „Liebling“-Filme. Es wird seine letzte Arbeit. Zum Drehbeginn am 4. Mai 1996 erhält Krug von Becker „einen Katalog menschlicher Ausdrucksmöglichkeiten“ als „kleine Hilfe“ (eine Karte mit 40 Kleinkind-Porträts, von seelig lächelnd bis jämmerlich heulend). Er solle sich anregen lassen, versprochen ist auch, „daß kein Mensch je von mir erfahren wird, woher Du Deine Inspiration beziehst. Dein Dich liebender Jurek.“ An anderer Stelle erklärt Krug, „je mehr Jurek einen Menschen liebte, desto mehr mußte dieser Mensch damit rechnen, von ihm veräppelt zu werden“.

Auf der Abschiedsfeier für den Freund im April 1997 in der Akademie der Künste hat Krug einige Karten vorgelesen - heitere Miniaturen. „Der lachende, erheiternde Jurek, wie ich ihn kannte. (...) Ich wollte den Jurek lesen, der nicht auf Reich-Ranicki oder sonst einen Kritiker schielt, der einfach komisch ist, frei von der Leber weg“, erklärt Manfred Krug. Für ihn sei es „eine Ehre und Pflicht“, diese Karten zu veröffentlichen.

Die letzte Karte ist vom 30. Januar 1997.

„Liebe Ti, ich habe ein Problem, bei dem mir niemand raten kann. Nachdem ich mit ‘Liebling’ fertig bin, muß ich mich für eins von drei Roman-Projekten entscheiden. Das erste würde mindestens drei Jahre (!) dauern, das zweite etwa zwei, und das dritte kaum mehr als ein halbes, es wäre eine längere Erzählung. Wenn ich der Statistik vertraue, sollte ich mich für das dritte entscheiden; aber wenn ich auf mein Herz höre (also Christine), unbedingt für’s erste. Das sind Entscheidungen! In Liebe Jurek.“

Am 14. März ist Jurek Becker gestorben.

Burga Kalinowski


© Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

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