Rezension

 

Wehren mit Worten

Mario Wirz: Das Herz dieser Stunde

Aufbau-Verlag, Berlin 1997, 111 S.

 

Alle Gedichte sind ein einziges Gedicht. Alle Gedichte sind ein einziges Gespräch mit Gevatter Tod. Alle Gedichte sind ein einziges Liebesgedicht. Alle Gedichte sprechen von der Liebe zum Leben. Von dem einen, einzigartigen Leben, das Mario Wirz heißt. Wirz spricht von seiner unaufkündbaren Lebensliebe. Wirz wehrt sich gegen alle An-, Ein- und Übergriffe des unsichtbaren, unkündbaren Untermieters des Lebens, der Tod heißt.

Mario Wirz wehrt und wehrt und wehrt. Jedes aufs Papier gebrachte Wort erhöht und verstärkt die Barrikade gegen den Tod. Der Schriftsteller verschanzt sein Leben nicht. Er schützt es. So gut er kann. So schutzlos, wie er ist. Wissend: „ich bin in der Falle“. Aus einigen Fallen ist der HIV-Infizierte heraus, den der Krebs ins Krankenzimmer 54 sperrte, das er knochig und haarlos verließ. Ständig auf Tuchfühlung mit dem Tode, zwingt sich Wirz nicht, ständig neue Überlebensstragegien zu entwickeln. Der Schriftsteller lebt sein geliebtes Leben: „alles halte ich fest/nichts lasse ich los“. „spraye die Graffiti meiner Gier/auf alle Wände“. Seine sichersten Wände sind die in schneller Folge in den Neunzigern veröffentlichten Bücher. Sein neuer Gedichtband Das Herz dieser Stunde ist stärker als der Titel. Der Band ist eine der stabilsten Wände, die Wirz mit seinen Wider-Stands-Zeichen versehen hat.

Da Tod tatsächlich nicht d a s Thema des Lyrikers ist, schwelgt er nicht in Selbstmitleid und lamentiert nicht über Sterblichkeit. Heute sterben für den Autor immer nur die anderen. Sich dem Verfall der eigenen Vitalität verweigernd, kann der Lyriker laut lachen und so sein Leben anlachen. Manchmal mit bühnenreifer, auch an-greif-barer Geste. Die bedrängt, belästigt, beleidigt nie und niemand. Es ist die Geste eines Menschen, der sagt: „jetzt spiele ich Held“. Mario Wirz's lyrische Biographie des Lebens, die voller Sterblichkeit ist, will keine Bewunderung. Die Gedichte wollen das Pathos. Der Dichter ist ein Pathetiker. Er ist nicht der große Allegorist, Aphoristiker, Metaphoriker, den die große Dichtung will und die die Dichtung groß machen. Er ist der Ergriffene, der ergreifen will. Ein vom Leben Ergriffener, der Partei ergreift fürs an sich schöne Leben, das schlecht gemacht wird. Einer, der sagt, „wenn Sterblichkeit die Regel ist / will ich die Ausnahme sein.“ Wie jeder, der die Gedichte des Mario Wirz liest. Alle möchten wir die eine Ausnahme sein. Alle wollen wir, daß der romantische Rosenstrauch niemals welkt.

Ulrich Blankenfeld


© Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

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