Rezension

 

Bild-Zertrümmerer

Jürgen Riedel: In Deutschland und anderswo II

Lyrik und Prosa, Limericks und Schüttelreime.
R. G. Fischer Verlag, Frankfurt/M. 1996, 152 S.

 

In Mommsens Block von Anfang der 90er Jahre hat Heiner Müller begründet, warum dieses Gedicht ohne Interpunktion ist: Er war ohne Hoffnung, daß man ihn unter den neuen Verhältnissen lesen werde ... Die Markierung der Syntax, die für einen Rezipienten die Ordnung der Gedanken strukturiert, schien ihm nicht mehr erforderlich, da er mit einem solchen nicht mehr rechnete (daß dem dann doch nicht so war, sondern das Gedicht viel diskutiert wurde, hing nicht zuletzt mit Müllers Bekanntheit zusammen sowie dem gespannten Warten darauf, wie er die grundlegend veränderten Verhältnisse künstlerisch verarbeite).

An diese Formentscheidung und Begründung Heiner Müllers mußte ich bei der Lektüre des Lyrikteils in Jürgen Riedels Band In Deutschland und anderswo II (der erste Teil erschien 1993, vgl. Berliner LeseZeichen, 2/95) immer wieder denken. Außer gelegentlich einem Doppelpunkt auch hier keine Satzzeichen. Wie bei Müller muß der Leser sich die syntaktische Struktur und damit die gedankliche erst erarbeiten, um in den Dialog mit dem Gedicht/dem Autor zu kommen. Was ist hier der Grund?

Versuch einer Antwort.

Der Lyrik-Teil, der etwa drei Viertel des Bandes ausmacht, liest sich wie ein Tagebuch zu den Ereignissen der Jahre 1994 und 1995. Ein Ich notiert seine Wahrnehmung von Ereignissen in Politik, Wirtschaft, Sport, von Politikerauftritten, davon ausgehend seine Reflexionen über deutsche Demokratie, über die ost-/westdeutsche Situation. Als Tagebuch ist es zunächst ein Mittel zur Selbstverständigung, erst im zweiten Schritt für eine Öffentlichkeit gedacht. Häufig werden die Reflexionen auslösenden Ereignisse deshalb nur knapp angedeutet, mehr bedarf es in einem Tagebuch erfahrungsgemäß für den Schreiber auch nicht, da die Andeutung ihm die Situation erstehen läßt. So war ich als Leserin allerdings auch nicht unbegründet erstaunt, daß es mir gelegentlich Mühe bereitete, mich an die gemeinten Ereignisse zu erinnern - wohl zu erklären mit der Informationsüberflutung, wo eine Information die andere überdeckt, wenn man sie denn nicht ausdrücklich festhält.

Der Stoff, das, was das Ich wahrnimmt, ist nicht zum Anfassen, ist nicht unmittelbar erlebt, es ist das B i l d von Wirklichem, das, was die Medien - vorrangig das Fernsehen, das nicht selten unmittelbar Gegenstand ist - von der Wirklichkeit vermitteln. Dieses vermittelte Bild, man könnte auch sagen Schein, suchen die Gedichte zu dekonstruieren, indem sie dessen Ideologie freilegen, die Maskierung zerstören - mittels Sprache eine Gegenposition aufbauen. Der Allgemeinplätzigkeit öffentlichen Sprechens sowie dessen manipulierender Gewalt wird die bewußte Arbeit am Wort entgegengestellt, die oft schlaglichtartige Erhellungen bringt durch Hervorgraben des ursprünglichen Sinns oder verblüffende Komposita und Ableitungen (in dem Spiel mit den Namen von Politikern gelegentlich aber auch ermüdet).

Inhaltlich überwiegt die Auseinandersetzung mit der politischen, sozialen und wirtschaftlichen Situation im vereinten Deutschland (die wenigen Gedichte zu „anderswo“, deren Funktion wohl sein sollte, die Perspektive zu weiten - was allerdings wichtig wäre, um Nabelschau zu vermeiden -, sind demgegenüber von wenig Gewicht). Dabei überwiegt ein Schwarz-Weiß-Schema: Ost (DDR-Erbe): gut, West (alte/neue Bundesrepublik): schlecht (daß die im Untertitel erwähnte Prosa sich als gegenwartsgegründete Adaption von Grimmschen Märchen erweist, ist also in seiner genrebedingten moralischen Dualität nur konsequent).

Das ist forciert gegen den Zeitgeist gedacht und geschrieben, setzt gegen das überwiegend Praktizierte eine Extrem - das gedachte Andere. Und das tut einem Leser aus Ost erst einmal gut, da von einem Autor aus West nun wirklich selten. Doch bringt es am Ende weiter? An einem Beispiel: Es scheint mir schon konsequent, der kritisierten medialen Feier des D-Day mit ihrer Tendenz zur Ausschließlichkeit der Leistung der Westalliierten für die Befreiung vom Faschismus in einem anderen Gedicht („8. Mai“) die Leistung Stalins entgegenzusetzen. Doch bei einer Entgegensetzung bleibt man dem Vorgängigen verhaftet, unterwirft sich dessen Strategie, wird auf diese Weise angreifbar, weil Fragen _ trotz der metaphorisch schwachen Charakterisierung Stalins („sein Herz sibirisch kalt /seine Grausamkeit ein Eisbärmaul“) - auf diese Weise umgangen werden: hier die der Problematik, wie es dazu kam, daß die Sowjetunion überhaupt so wenig auf einen Angriff Hitlerdeutschlands vorbereitet war, andererseits mit dem sowjetischen Sieg stalinistische Strukturen in der SBZ/DDR Fuß fassen konnten - mit vielfältigen Konsequenzen, die konkret-historisch und sehr differenziert - auch mit Blick auf gesellschaftliche Alternativen - aufzuarbeiten sind.

Die Gedichte, so war meine These, waren zunächst als ein die Zeitereignisse reflektierendes Tagebuch eines kritischen - und parteilichen - Beobachters der Medienwirklichkeit gedacht, als solches nicht unbedingt mit einem Rezipienten rechnend. Gestützt wird diese auf Grund der fehlenden Interpunktion angestellte Vermutung durch eine Information über den Autor, die Gewicht durch ihre Doppelung hat (sowohl auf der Rückseite des Bandes wie auf einem beigelegten Info-Blatt über den Autor): „ein Gegner des Literaturbetriebs, was die Meinungsdiktatur einiger einflußreicher Zeitungen und Verlage betrifft“. Das ist nachvollziehbar, handelt es sich doch bei dem Vorliegenden um ausgesprochen politische Lyrik - und dafür gibt das Feuilleton dieser Zeit keinen Raum -; allerdings nicht solche traditioneller Art, die überwiegend Sprechlyrik war. Und deshalb brauchte Riedel, wollte er seine Zeitwahrnehmungen öffentlich machen, einen Verlag außerhalb des „Literaturbetriebs“, der der R. G. Fischer Verlag offensichtlich ist. Denn seine Gedichte muß man l e s e n, sie sich selbst erst einmal bauen. Wenn man meint, die syntaktische Struktur gefunden zu haben, den Witz (im besten, französischen Sinne) seiner Wortarbeit, ist dies erst einmal ein kommunikativer Effekt und macht auch Spaß (diesmal im Brechtschen Sinne) und übt in (sprach-)kritischem Denken. Dessen versichern den Autor auch die beigege-benen Pressestimmen (die, abgesehen von einer Ausnahme, alle aus dem Osten stammen, dem nachzudenken ich mir hier verkneife). Daß es mitunter nicht darüber hinausgeht, beziehungsweise seine eigene Problematik hat, wurde schon angedeutet.

Karla Kliche


© Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

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