Rezension

 

Schatten und Seiten

Ach Kerl ich krieg dich nicht aus meinem Kopf.
Männerliebe in deutschen Gedichten unseres Jahrhunderts.

Herausgegeben mit Nachwort von Hans Stempel/Martin Ripkens.
Deutscher Taschenbuch Verlag, München 1997, 204 S.

 

Großes Bangen in der Branche. Immer wieder, wenn ein Buch mit Gedichten ausgegeben wird. Allen bitteren Enttäuschungen zum Trotz riskierte der Deutsche Taschenbuch Verlag eine „Originalausgabe“ mit lyrischen Texten. Was ist das Originale? Was das Originelle? Wer heute auf „schwule Literatur“ spuckt, läuft leicht Gefahr, daß der Auswurf ihn selbst trifft. Auch „schwule Lyrik“ muß nicht mehr hinter dem ominösen plüschigen Sofa versteckt werden. Sie selbst ist mehr als beliebiger poetischer Plüsch und Plunder. Sie hat viel von der derben, deftigen, drängenden, desillusionierenden Männerliebe, die keine bessere Liebe ist. Martin Ripkens und Hans Stempel wissen das sehr genau. Sie haben Gefallen gefunden an ihrem gemeinsamen, vierzigjährigen Leben. Gemeinsam ist ihnen auch ihre Lust auf Lyrik, Gedichte, die ihnen auffielen, die ihnen aus guten Gründen zusagten, haben sie in zweijähriger Arbeit geordnet und nun in einem Band binden lassen, Ach Kerl ich krieg dich nicht aus meinem Kopf heißt Stempel/Ripkens Anthologie, die fällig war. Keine Jahrhundert-Anthologie, ist sie doch die kompletteste und somit vorerst gültigste Ausgabe, die „Männerliebe in deutschen Gedichten unseres Jahrhunderts“ präsentiert. Als sei das die selbstverständlichste Sache der Welt. So selbstbewußt war das Selbstverständnis der Schwulen und ihrer Sympathisanten bis in die siebziger Jahre nicht. Vom entwickelten Selbstverständnis des letzten Vierteljahrhunderts hat die Sammlung mehr als von den Schattenseiten der Versteckzeit.

Die Linie des Wechsels und Wandels machen auch Verse eines gewissen Karol Kröpcke kenntlich, die seine Verklemmtheit nicht verleugnen können. So kann (man(n) auch Bärendienste erweisen. Gott sei Karl Krolow gnädig! Nicht heikel ist das „Heikle“ für den unterm Dach des parodistischen Pseudonyms bleibenden Rainer Madonna Degenthoff. Die Zeiten des Verdeckens und Versteckens sind Vergangenheit. Die Herausgeber sahen also keinen Grund, ein Tribunal zu veranstalten und „schwule Lyrik“, Autoren wie Autorinnen als irgend etwas zu outen. Nach Herzens- und Verstandeskräften bemühten sie sich, die Anthologie nicht zu einer Hausapotheke werden zu lassen, die Pillen für schwule Seelenschmerzen verabreicht.

Real existierende Lebensumstände brachten die Münchner dazu, vor allem auf Lyrik-Editionen in der DDR zu achten. Das zahlt sich nun aus. Stempel/Ripkens Kompendium ist auch eine Chronik der sich emanzipierenden „schwulen Lyrik“ in der DDR. Auf deren ersten Seiten Pioniere wie Andreas Reimann und Ulrich Berkes erscheinen, deren Entwicklungslinie später ein Thomas Böhme fortsetzte. Die erhebliche Anzahl der Autoren, die in der DDR lebten, liefern auch einen erheblichen Anteil der Anthologie und sichern der Sammlung die Substanz. Das quittieren die Herausgeber ohne Schadenfreude. Sie quittieren Gedichte von Gleichgeschlechtlichen für Gleichgeschlechtliche. Und nicht nur für sie. Gedichte von Heterogeschlechtlichen übers Gleichgeschlechtliche. Und nicht nur der Gleichgeschlechtlichkeit wegen. Die Gedichte sind, allesamt, Liebesgedichte. Gedichte von der Lust und Last der Liebe. Für alle, die der Lust und Last der Liebe nicht ausweichen. Für alle, die sich nicht vor Unaussprechlichem und Unausgesprochenem fürchten. In Ach Kerl ich krieg dich nicht aus meinem Kopf ist mehr vom vermeintlich Unaussprechlichen ausgesprochen als anderswo. Da können Sie nur kichern? Also, Herr Brecht!

Sven Sagé


© Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

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