Rezension

 

Annäherung durch Abstand

Ulrich Berkes: Ikarus über der Stadt
Ausgewählte Gedichte.

Rimbaud Verlagsgesellschaft, Aachen 1997, 95 S.

 

Von Kult sprach man besser nicht. Zu schnell wurde sofort an Personenkult gedacht. Konsequenterweise gab es in der DDR keine Kultband, keinen Kultfilm, kein Kultstück, kein Kultbuch. Dennoch hatte die DDR ihre Puhdys, „Die Legende von Paul und Paula“, Die neuen Leiden des jungen W. und Eine schlimme Liebe. Ohne in den Sog eines ominösen inflationären Kults zu geraten, war Ulrich Berkes Buch Eine schlimme Liebe eines der Gefragtesten in der DDR-Endzeit. War es auch ein Zeichen der Endzeit, der Enttabuisierung, der gewachsenen Gelassenheit? Das Buch mußte bei den zuständigen Behörden mit enormem Aufwand durchgesetzt werden. Eine schlimme Liebe war das erste und einzige Buch eines bekennenden homosexuellen Schriftstellers der DDR, das dem Thema Homosexualität von der ersten bis zur letzten Seite nicht auswich. Auch deshalb wurde das Buch zu einer Angelegenheit der gesamten DDR, sprich der vielen anteilnehmend Lesenden im Lande. Durch Berkes drittes Buch, nach zwei Gedichtbänden, bekam auch die Lyrik des Autors mehr Beachtung. Aufmerksame Leser „entdeckten, was Lektoren und Rezensenten verborgen geblieben war, daß die Liebeslyrik des Verfassers viel mit der berkes’schen Liebe zu tun hatte, die seit nahezu einem Vierteljahrhundert den Namen Martin hat. Nicht still, doch leiser, nicht verschwiegen, doch verhaltener geworden, hat Berkes nach einem Dutzend Jahren wieder einen Gedichtband veröffentlicht. Nicht mehr in Berlin. Nicht mehr bei Aufbau. Nun in Aachen. Bei Rimbaud. Wer nicht aufgab und geduldig auf Weiteres von Berkes wartete, wird erfreut und enttäuscht sein. Der 1936 Geborene bietet, was er schon geboten hat, und ist doch entschiedener in seiner Zurück-Haltung. Bereits der Titel der Ausgabe Ausgewählte Gedichte ist ein Rückgriff und identisch mit dem ersten, dem 1976 publizierten Band Ikarus über der Stadt. Ist das schmale lyrische Werk noch schmaler geworden? Zu den aus „Ikarus“ stammenden Texten gesellen sich einige aus Tandem (1984). Abgeschlossen wird die Auswahl mit Unveröffentlichtem. Die meisten der unbekannten Gedichte sind vor rund anderthalb Jahrzehnten geschrieben.

Eines ist für Berkes immer bestimmend. Annäherung macht er sich möglich, indem er Abstand hält. Der Lyriker äußerst sich als Beobachter. Als Beobachter ist Ulrich Berkes ein Beteiligter. Das war so! Das ist so! Das wird so sein! Der Beobachter registriert Realität. Penibel. Am penibelsten im jetzt erstmals Gedruckten. Ohne poetisierende Schnörkel wird Leben bewahrt. Werden Orte bewahrt. Auch Menschen, die ihr Leben an und in den Orten haben. Orte sind wichtig. Orte zu orten ist wesentlich. Die gesperrte Friedrichstraße, am Beerdigungstag der Anna Seghers, wird wichtig wie eine Glasveranda im Thüringischen wesentlich. Schwarz auf weißem Papier erwägt und erwähnt Berkes die Einzigartigkeit der Orte in einem einmaligen Moment. Ob die lyrischen Berichte des Beobachters die Poesie befördern? Nicht die, die wir seit zwei, drei Jahrhunderten kennen und pflegen. Sind Ulrich Berkes’ Gedichte schon im nächsten Jahrhundert angekommen? Sind sie uns vorausgeeilt? Werden wir im kommenden Jahrhundert den heiteren Hintersinn der Gedichte kapieren, in denen so viele Details der Gegenwartsgeschichte stecken? überlassen wir die Zeilen sorglos der Zukunft. Direkt und konkret ist in den Gedichten des Ulrich Berkes mehr von den Geschicken heutiger Menschen als in denen bekannterer Dichter heutiger Zeit.

Sven Sagé


© Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

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