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Knoten in der Zeit

Begegnung mit dem Lyriker und Schriftsteller Marcus Brühl


Biographisches

1975 in Siegen geboren
1995 Abitur; Aufnahme des Studiums der Allgemeinen und vergleichenden Literaturwissenschaft, Anglistik, Theaterwissenschaft und Soziologie an der Freien Universität Berlin und der Humboldt-Universität zu Berlin

Preisträger des bundesweiten Wettbewerbs „Treffen junger Autoren“, Berlin 1993 und 1995
Literaturpreis des Kommed e. V., Berlin 1994

zahlreiche Lyrikveröffentlichungen in Zeitschriften und in den Anthologien Unter der Steinhaut 1993; Zwischen den Rädern 1995; Kopfsprung 1996; Komm, eine Anthologie 1997 und Stadt 1997
Die Satiresammlung Lebensansichten einer gepflegten Tunte erschien im Herbst 1997 im Berliner quer-Verlag.
Für das Frühjahr 1998 ist das Erscheinen des ersten Lyrikbandes atemlicht geräuschlos in der edition schwarzdruck geplant.

Gedichte

ein zimmer
in dem die dinge
beschriftet sind
die fenster beleuchtet

die türen wissen
den weg von allein

hier wohnt
penelope
und spinnt
den trotz
in fadenform.

ich wohne
hier. ich webe
den parzen
den dorrn
ins auge

unterm fenster
die alten gläser
zerschmissen

drei schwestern
geben uns wasser
aus flaschen zu trinken

ich dachte an donner
gegen die scheibe
schlägt ein falter
staub löst sich

der staub von den flügeln
der staub der scheibe

der zug fährt zurück
und selten kommen wir
in taugefahr. zumeist sind die
vögel hier krähen die felder
sind gelb wie anderswo,
die fallen und steigen

ich lese aus gläsern
die dampfende zeit
der winter erfolgt
auf raten: hagel, eis,

und der schnee ist
das wärmste

dein gelb und
dein blau
taumeln entlang
deiner angst
du stellst sturm fest
in den wind und atmest

im steinwald
ist frieden
wer reingeht
ersteinert

die geburt der farbe
gelb vollzog sich
sehr mühsam.
erst wurde der lehm
gewrungen
dann dauerte es
zehntausend tage.
so wurde das gelb
in die welt gebracht.
es spiegelt sich
seither in der sonne

ich hab
mein leben lang
die sonne gelb gesehn: seit
gestern hör ich
sie flüstert

stille plätschert uns
zwischen den zehen
die ruhe ist mächtig und
lächelt


Waldtraut Lewin

Marcus Brühl im Gespräch über seine Gedichte

Unsere Bekanntschaft rührt her vom Treffen Junger Autoren 1993 in Berlin. Marcus Brühl, zum erstenmal Teilnehmer, ich zum erstenmal Jurorin. Und unter vielerlei Gutem und noch mehr weniger Gutem auf einmal diese Gedichte. Gebilde. Maßvoll, klar, kein Ton zuviel.

Wie kommt solches zustande?
Marcus gehört nicht zu jenen, denen eine poetische Karriere sozusagen in die Wiege gelegt wurde. Sein soziales Umfeld jedenfalls prädestinierte ihn nicht zur Kunst - Vater Techniker, Mutter Schneiderin. Er sagt, daß er einfach beschloß, Dichter zu werden - nachdem er mit 14 „Dichtung und Wahrheit“ gelesen hatte.

Marcus Brühl, als jemand, der anders ist als die anderen. Natürlich spielt auch das eine Rolle: daß er schwul ist. Was aber nichts mit der Les-Art seiner Gedichte zu tun hat. Thematisierung der Homosexualität ist bestenfalls Randereignis. Poesie als Flucht vor einer ungeliebten, fremden, mitunter feindlichen Realität. Das kommt der Sache schon näher.

Mich erinnern diese Gedichte in ihrer Konzentration auf das wesentliche Wort, den entscheidenden Ton sehr an japanische Lyrik. Marcus Brühl hört das gern, sieht aber die Japaner nicht als seine Vorbilder an. Nach Vorlieben unter den Poeten befragt, nennt er Sarah Kirsch, Kunze, natürlich Hölderlin. Und ihm fällt T. S. Elliot „The waste Land“ ein. Hinter den Gedichten verschwinden will er. Und nennt sie Spiegel. Getönte Spiegel, in die der Leser hineinblickt. Nicht hindurchgeht.

Was sind seine Gedichte für ihn?

Sprache, sagt er, ganz einfach Sprache, eine Ton-Art, ein Klang. Bewußt vermeiden wir in unserem Gespräch den Begriff Emotion, reden um ihn herum. Genauso wie um das ähnlich gelagerte Wort Stimmung, obwohl es sehr nah liegt. Aber dies ist keine Gefühlslyrik. Es sind hoch komprimierte Gebilde, Momente des Atem-Anhaltens, des Schwebens. Ein Knoten in der Zeit. Nichts Überflüssiges, keine Redundanz, kein Überschwang.

Gebilde.

Der Klang. Melodie und Sprache sollen beim Lesenden (oder Hörenden) etwas evozieren. Das zur Wirkung. Und zum Verhältnis zum Leser. Für wen er schreibt? Natürlich primär für sich selbst. Verbiete du dem Seidenwurm zu spinnen. Reicht das nicht? Das muß reichen.

Und zur Verfertigung?

Das Gedicht ist fertig, ohne daß man es versteht. Geht es verloren, ist es nicht reproduzierbar. Ich erinnere mich an eine Handvoll schöner Verse von Marcus, die verschenkt wurden und sich im Computer nicht mehr wiederfanden. Sie waren unwiederbringlich dahin. Dazu kann er die Achseln zucken. Da oder weg. Der Brunnen ist voll.

Marcus Brühl spricht auch vom Moment der Gnade im Schaffensprozess. Das Glück des jähen Entronnenseins. Das wollen wir einfach so stehenlassen, ohne mit Interpretationen anzufangen. Die sollte man sich bei dieser Art von Poesie ohnehin schenken.

Was kommt nach den Gedichten?

Zunächst natürlich noch mehr Gedichte. Eine Zeitlang hat sich Marcus Brühl an Hörspielen versucht und das Medium als für ihn im Augenblick ungeeignet verworfen. Jetzt ist die Arbeit an einem Roman angesagt - eine völlig andere Welt als das Verfertigen von Gedichten. Konzepte sind erforderlich, nicht der Moment des schönen Nu, statt Anhalten der Zeit das Verfließen von Zeit, das Modellieren des Zeitstroms. Statt Benennung Beschreibung.

Arbeit mit der Zeit in der Zeit. Aber Zeit sollte man ja noch haben, wenn man 22 Jahre alt ist.


© Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

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