Annotation

t' Hart, Maarten:

Das Wüten der ganzen Welt

Roman. Aus dem Niederländischen von

Marianne Holberg.

Arche Verlag, Zürich 1997, 416 S.

Weiß der Teufel, wie der Titel zu verstehen ist. Der eigentliche Wert des Buches nämlich liegt in der subtilen Beschreibung einer Kleinstadt-Welt, die in sich abgeschlossen scheint und in die nur selten ein Lichtstrahl von draußen dringt. Wir befinden uns in der besonders mickrigen Ecke einer südholländischen Kleinstadt, wo Alexander Goudveyl als Sohn eines geizigen Lumpenhändlers aufwächst - in abgelegten und aufgearbeiteten Kleidern, mit Griebenschmalz und Stippgrütze, denn alles darf fast nichts kosten. Nebenan ist die Wäscherei, die Apotheke, die Kneipe. Hier, wo die kleinen Leute wohnen, dümpelt das stinkige Brackwasser vor sich hin, denn die offene See und der schöne Strand sind weit. Die Goudveyls sind nicht angesehen hier, denn es sind „Zugezogene“, und dann haben sie im Krieg auch noch das Geschäft eines Juden übernommen, der von den Deutschen ins Lager gesteckt wurde. Das riecht nach Kollaboration, das wird nicht toleriert. Alexander hat darunter zu leiden: Die Schulkameraden treiben grausames Spiel mit ihm, dabei ist er völlig aus der Art geschlagen. Er zeichnet sich nicht nur durch besonderen Intellekt aus, sondern auch durch hohe Musikalität. Er bringt sich selbst das Klavierspiel bei, übt auf einem alten Blüthner, der sich im Schuppen anfand, und auf der Orgel in der Kirche. Er fällt einer Musiklehrerin auf, die ihn fördert, er wird gefragter Partner bei instrumentalen Duos, Trios und Quartetten. Bach, Mozart und Schubert werden seine Götter, und bei dieser Gelegenheit taucht das Buch tief in den musikalischen Kosmos ein. Alexander durchläuft das Gymnasium, soll nach dem Willen des Vaters ein zweiter Albert Schweitzer werden, studiert also wenigstens Pharmazie, das weibliche Geschlecht interessiert sich mehr für ihn als umgekehrt, aber am Ende drängt's ihn doch aufs Konservatorium, und eines Tages wird er Komponist und erzählt die Geschichte seiner Kindheit in Ich-Form, anrührend, nicht ohne Humor, ehrlich und unverwechselbar.

Es ist aber auch eine Geschichte von der jahrzehntelangen Suche nach sich selbst, ausgelöst durch ein Kindheitsereignis. Während er bei einer Evangelisationskampagne den Gesang am Klavier begleitet, wird der hinter ihm stehende Polizist Vroombout von einer Kugel niedergestreckt. Alexander glaubt die Pistole auch auf sich gerichtet und wird von dieser Vorstellung ständig verfolgt. Deshalb sucht er den Fall detektivisch zu lösen, längst nachdem die Kripo ihre Ermittlungen ohne Ergebnis eingestellt hat. Sie suchte zu lange im pädophilen Milieu. Alexander dagegen verfolgt eine Spur, die zurück in den Krieg, in die Zeit der deutschen Besatzung und der Judenverfolgung führt. Nach dreißig Jahren, als reifer Mann, stößt er dabei unerwartet auf seine wahre Identität. Auf diese Weise dringt doch noch die Zugluft der großen weiten Welt und historischer Ereignisse in das Kleinstadtmilieu.

Der Autor ist ein anschaulicher Erzähler, kenntnisreich hinsichtlich Milieu und Psychologie, und er hat seine Geschichte gut komponiert. Er schrieb sie ein wenig behäbig, aber mit melancholischem Witz; intellektueller Tiefe und wunderbar schwebender Sentimentalität. Maarten t'Hart (53), geboren in der Nähe von Rotterdam und heute als freier Autor, Kolumnist und Moderator in Warmond lebend, gehört, wie der Verlag mitteilt, zu den beliebtesten niederländischen Autoren. In 26 Jahren habe er ein umfangreiches erzählerisches Werk geschaffen, von dem bisher nur der Roman Ein Schwarm Regenbrachvögel bei uns bekannt wurde (Suhrkamp, 1986). Das Wüten der ganzen Welt erhielt 1994 den „Gouden strop“ des niederländischen Buchhandels, den Preis für das spannendste Buch. Das ist ganz sicher übertrieben, weil die Beschaulichkeit stärker ist als das Spannungsmoment, aber der Mix aus Entwicklungsroman, Krimi und Kleinstadtgeschichte, verbunden mit einer Hommage an die Welt der Musik, hat doch großen Reiz. Das alles geschieht auf einem literarischen Niveau, daß es wünschenswert wäre, wenn der Autor dieses Mal tiefere Spuren in unserer Buchlandschaft hinterlassen würde.

Hans-Rainer John


© Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

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