Eine Rezension von Hans-Rainer John

Ein Comeback nach 150 Jahren

Louisa May Alcott: Die Gefangene von Valrosa
Roman.
Aus dem Amerikanischen von Irmhild und Otto Brandstätter.
Rütten & Loening, Berlin 1996, 288 S.

L. M. Alcott, 1832 in Pennsylvania geboren und 1888 in Boston gestorben, ist hierzulande unbekannt. In ihrer Heimat ist zumindest ihr Buch Betty und ihre Schwestern, mit dem sie 1868 zu Ruhm und Reichtum kam (1994 verfilmt von Winina Ryder), als Klassiker der amerikanischen Jugendliteratur noch populär. Gezwungen, zum Unterhalt ihrer Familie beizutragen, veröffentlichte sie seit ihrem sechzehnten Lebensjahr moralische Jugendbücher und erbauliche Unterhaltungsromane für Erwachsene. Unter letzteren befand sich, längst vergessen und erst 1994 von einem Sammler zufällig wiederentdeckt, A Long Fatal Love Chase. Der Titel umreißt den Inhalt präzis, ist aber natürlich vom PR-Standpunkt aus, wörtlich übersetzt wenig griffig. Dafür jedoch Die Gefangene von Valrosa zu setzen, ist unverständlich und auch schlichtweg falsch. Denn worum geht es?

Der Roman beginnt fast wie einer aus der Feder der Königin des Kitsches, Courths-Mahler: Die 18jährige Rosamond Vivian langweilt sich zu Tode auf einer kleinen englischen Insel, auf der sonst nur noch ein grantiger Opa lebt, der ihre Gesellschaft nicht zu schätzen weiß. Da legt in einer stürmischen Nacht der smarte Philip Tempest mit seiner Luxusjacht an und gewinnt in einem Spiel mit dem hartherzigen Großvater Rosamond als Preis. Dem Mädchen erscheint er als Erlöser, also läßt sie sich an Bord nehmen. Sie besteht als gut erzogenes Mädchen auf sofortiger Trauung, und dann geht's über die Meere nach Nizza, wo Philip die Traumvilla Valrosa besitzt. Ein Leben in ungetrübtem Glück, sagenhaftem Reichtum und grenzenloser Liebe schließt sich an.

Das freilich währt nur ein Jahr, dann kommt Rosamond dahinter, daß Philip die Eheschließung nur fingiert hat, weil er bereits Frau und Kind besitzt. Und nun erhebt sich die Autorin über die gängige Trivialliteratur und bietet doch ein, wenn auch geschöntes, so doch breites Zeit- und Sittenbild. Tiefgekränkt in ihrer Ehe, flieht die Heldin - eben nicht eine Gefangene des high live in der Villa Valrosa - aus Protest gegen Täuschung und Betrug bei Nacht und Nebel nach Paris. Sie baut sich dort mühevoll eine ärmliche, aber tugendhafte Existenz als Näherin in einer Mansarde auf - bis Philip sie aufspürt und mit seiner Liebe erneut bedrängt. Die Scheidung von seiner Frau hat er reuevoll in Gang gesetzt, zur Ehe bietet er nun ehrlich die Hand, aber Rosamond vermag ihm nicht zu verzeihen. Sie entkommt wieder, und damit beginnt eine dramatische Hetzjagd durch Frankreich, Deutschland und England mit vielen Stationen, darunter Kloster, Schloß, Irrenanstalt und Landhaus. Immer wieder findet das schöne Mädchen aufrichtige Freunde, tatkräftige Helfer und selbstlose Verehrer, aber immer wieder holt sie der von ihr besessene Philip ein. Die Verfolgung endet erst wieder auf der Felseninsel. Dort ist Rosamond dann ertrunken (wie das geschah, wird nicht recht enthüllt), und Philip stößt sich einen Dolch in die Brust. So findet A Long Fatal Love Chase ihr Ende.

Das alles wird anschaulich und ohne Umschweife erzählt, in knapper, fast modern wirkender Diktion. Stets wird der Leser in Spannung gehalten, an zugespitzten Situationen, atemberaubenden Wendungen und plötzlichen Überraschungen mangelt es nicht. Das liest sich kurzweilig und unterhaltsam, und das ist wahrscheinlich auch der Grund, weshalb die kürzliche Veröffentlichung des Romans in den USA sensationelle Wirkung erzielte. Die Moralvorstellungen des vorigen Jahrhunderts werden dabei offenbar in Kauf genommen - die gültige Eheschließung ist Voraussetzung jeder intimen Beziehung, sie ist wichtiger als echte und aufrichtige Liebe: Reue und Korrektur des Vergehens wird dagegen als Entschuldigung nicht akzeptiert. Allerdings wird schon hier - vor 150 Jahren! - vorsichtig gegen den Stachel des Zölibats gelöckt: Pater Ignatius, jung, kräftig und moralisch integer, liebt Rosamond, wird auch wiedergeliebt, muß aber der Kirche wegen entsagen - das scheint die Autorin nicht recht zu billigen.

Das Beste aber ist wohl die Figur der Rosamond. Sie kennt die Welt von der einsamen Insel her nur aus Büchern, findet sich aber erstaunlich schnell zurecht. Das Mädchen ist nicht nur schön und charmant, furchtlos und beherzt, gefühlvoll und entschlossen, leidenschaftlich und hilfsbereit, es ist vor allem die Unbedingtheit, die sie auszeichnet. Entschieden folgt sie ihren Prinzipien, Kompromisse sind ihr fremd, die Bedrohung durch den Tod nimmt sie gelassen in Kauf - eine sympathische Schöpfung der Frauenrechtlerin Alcott.

Nicht so schlüssig ist der Autorin Philip Tempest gelungen. Von Anfang an läßt ihn die Autorin fragwürdig erscheinen, mephistophelisch, von einem Hauch des Verbrechens umgeben, und sympathisch und ansehnlich nur in einem Maße, das Rosamonds Liebe und Zuneigung erklärlich macht. Man hält ihn zumindest für einen leichtlebig-oberflächlichen Don Juan, der Rosamond verführen und dann fallen lassen will, eine tiefe Liebesfähigkeit ist in ihm nicht angelegt. Da überrascht es dann, daß er das arme Mädchen nur martert mit einer Liebe, die sich zur Obsession steigert. Er folgt ihr beharrlich durch dick und dünn, dient ihr demütig, umwirbt sie aufrichtig, und daß er versucht, Widersacher auszuschalten, auch mit fragwürdigen Methoden, wird fast verständlich gemacht. Diese Taten sprechen eine andere Sprache als die Wertung durch die Autorin. Diese läßt seine unwandelbare Liebe nicht gelten, schilt sie als selbstsüchtig, als könne er es nur nicht verkraften, daß sich jemand seiner Macht entzieht, und sogar die sonst stets mitleidige Rosamond verzeiht ihm nicht, daß er sie betrog und seine rechtmäßige Gattin verließ.

Der übermäßig schurkische Anstrich nährt den Verdacht, daß die Autorin der männlichen Hauptfigur letzte Gerechtigkeit versagte. Infolge dieser Voreingenommenheit vermag sie nicht gänzlich zu überzeugen. Mußte sie damaligen Vorstellungen Tribut zollen? Wollte sie die Moral so demonstrativ hervorkehren?

Das Buch ist graphisch auffallend gut gestaltet (Henkel/Lamme). Daß der Korrektor eine Anzahl Druckfehler übersehen hat (und der Verfasser des Klappentextes die Fluchtroute fälschlich über Italien lenkt) fällt da um so mehr ins Auge. Bei der Tagespresse hat man mit der gänzlichen Vernachlässigung von Orthographie und Satzzeichengebung schon fast zu leben gelernt. Bei der Buchproduktion fällt es schwer, sich damit abzufinden. Wozu sonst die ganze Diskussion um eine Rechtschreibreform?


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 05/97 (c) Edition Luisenstadt, 1997
www.berliner-lesezeichen.de

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