Eine Rezension von Helmut Fickelscherer

Späte Heimatlosigkeit

Georg Hermann: „Der etruskische Spiegel“
Roman.
Verlag Das Neue Berlin, Berlin1996, 304 S.

Einst zerstörten Barbaren das Römische Reich, „die blonden Horden, die Goten und Vandalen, die Bilderstürmer, die alles zerschlugen, diese Stiere im Porzellanladen einer alten Kultur, die sinnlos mordeten, die bekommen, weil sie nichts mitbrachten und niemandem etwas schenken konnten ...“ Später dann - nicht erst, vor allem aber seit Goethe - reiste man über die Alpen nach Süden, um die Unzulänglichkeiten und Bedrohungen im eigenen Vaterland zu vergessen, die innere Zerrissenheit zu kurieren unter freundlichen Menschen in einer geschichtsträchtigen Landschaft, angesichts dessen, was die Barbaren übrigließen.

Im Jahr 1936 fährt der Architekt Harry Frank, 61jährig, nach Italien, weil er in Deutschland diskriminiert wird. Es ist eine Reise ohne Wiederkehr; er geht ins Exil, da er als Deutscher jüdischer Herkunft „nicht den Rest (seines) Daseins von Hitlers Gnaden als besteuerter Bürger elfter Klasse ... verbringen“ will. Zwei SA-Leute hatten sich vor seinem Architektenbüro postiert, um etwaige Bauherren zu vertreiben. Noch ahnt Frank, dessen Ururgroßvater schon Berliner war, nichts von der tödlichen Bedrohung, noch dürfen deutsche Juden, wenn sie es bezahlen können, emigrieren, und auch das Italien Mussolinis bietet mehreren tausend von ihnen trügerische Zuflucht.

Harry Frank ist eigentlich ein unpolitischer Mensch. Wem es gelingt, möglichst vielen Menschen eine materiell abgesicherte Existenz zu gewährleisten, „der wird von mir einen goldenen Lorbeerkranz bekommen, ganz gleich ob er es mit Kapitalismus, Sozialismus, Kommunismus oder Faschismus zuwege bringt“. Und so versucht er den italienischen Faschismus zu ignorieren, nimmt er die häßlichen Schneisen nicht wahr, die die neue Architektur wie ein Symbol der Zerstörung des Menschenmaßes ins altehrwürdige Rom geschlagen hat, findet das Denkmal des Vittorio Emanuele sogar akzeptabel. Allerdings fällt ihm eines auf: „Jetzt spricht man nicht mehr miteinander, wenigstens nicht laut.“

Dennoch stellt sich für ihn rasch Kontakt her. Schon im Zug hat er eine Frau mit ihrer Mutter und ihren beiden Kindern kennengelernt. Er findet die Frau „ungewöhnlich schön, mit ihrem schweren Haarknoten im Genick. Reif, klug, temperamentvoll.“ Sie ist die Witwe eines Archäologieprofessors, der bei etruskischen Ausgrabungen an einer rätselhaften Infektion verstarb. Die Familie bietet Frank an, in ihrem Palazzo zu wohnen, wo eine preisgünstige Pension betrieben wird.

Im Zusammensein mit dieser von ihm verehrten, geliebten Frau erschließt sich Harry Frank die Stadt Rom, die er schon mehrmals zuvor besucht hat, auf eine völlig neue Art. Er fühlt sich einbezogen in die jahrtausendealte Historie, aber auch in die südländisch-lebensvolle Gegenwart der Stadt.

Aus einer Laune heraus erwirbt Frank die (vermeintliche?) Replik eines etruskischen Handspiegels, der später in einem Museum mit einem (angeblich?) echten Exemplar vertauscht wird, oder wurde er gar nicht ausgetauscht? Jedenfalls hat der Spiegel für Frank die wundersame Eigenschaft, aus uralten Zeiten das Leben der Etrusker wiederzugeben, als seien die Bilder in ihm gespeichert gewesen. Und der Betrachter wird gleichsam integriert in dieses Leben; aber es ist keine fröhliche „Zeitreise“, da ist nichts idealisiert, Bilder vom Kampf der Etrusker mit den Römern lassen Gedanken aufkommen an den Untergang der abendländischen Zivilisation, ohnehin bedroht von Krieg und Mord. „Und die Straßen werden bald vom Geschrei der gehetzten Menschen erklingen ...“

Frank sieht im Spiegel ein etruskisches Wagenrennen, ein junger Wagenlenker, der ihn an Achille, den Sohn der von ihm umworbenen Frau, erinnert, gewinnt fast den Wettkampf, wird aber kurz vorm Ziel zu Fall gebracht und stürzt in den Tod. Verzweifelt versucht Frank, den jungen Achille, der am selben Tag ein Pferderennen bestreitet, von seiner Schreckensvision zu berichten und vom Start zurückzuhalten. Als er an der Rennbahn ankommt, erfährt er vom Sturz des Jungen. Er weiß, daß Achilles Tod auch das Ende seiner Beziehung zu dessen Mutter bedeutet, und begibt sich nach Ostia zum Strand, um den Unglücksspiegel im Meer zu versenken. Doch er hat das Spiegelbild falsch gedeutet; Achille überlebt den Unfall, Frank hat seinen eigenen Tod erblickt ...

Georg Hermann hat seinen letzten Roman dem Andenken seines Bruders, des Architekten Heinrich Borchardt, gewidmet, der 1935 in Rom gestorben ist. Geschrieben hat er ihn im holländischen Exil, der Erstdruck erschien 1936 in Amsterdam. Aber für den heutigen Leser wirkt der Handlungsschluß wie eine Todesahnung des Autors selbst, der bei der Besetzung Hollands durch die Wehrmacht den deutschen Faschisten in die Hände fiel und 1943 in Auschwitz ermordet wurde.

Lange Jahre war Georg Hermann vor allem durch seine Romane Jettchen Gebert und Kubinke bekannt, er galt vielen als ein Autor, „teils humorige(r), teils resignierende(r) Unterhaltungsliteratur“ (Deutsches Schriftstellerlexikon, 1961), nicht frei von Sentimentalität. Aber bei näherem Betrachten seiner Werke erweist sich, daß er zu den wichtigen Schriftstellern unseres Jahrhunderts gehört, zu den Zeitzeugen, die die Krisenzeiten unserer Epoche in ihre Werke einbezogen haben. Natürlich ist Der etruskische Spiegel eine anrührende Liebesgeschichte, auch bietet der Roman ein einfühlsames, manchmal schwelgerisches Italienbild. Aber da ist noch mehr: das Emigrantenschicksal des alternden Protagonisten, resultierend aus der Exilerfahrung des Autors selbst; das Unbehagen über den italienischen Faschismus, das sich zunehmend seltener verdrängen läßt; und diese faszinierende Einbeziehung der etruskischen Handlungsebene, dieses Gleichnis vom Werden und Vergehen der Zivilisationen.

Der Literaturwissenschaftler Gert Mattenklott hat in einem kenntnisreichen und überzeugenden Nachwort die Vielschichtigkeit des Romans offengelegt und einen neuen Blick auf das Werk Georg Hermanns initiiert.

Der etruskische Spiegel erscheint übrigens erstmals in Deutschland, und zwar in der auch buchkünstlerisch überzeugenden Ausgabe der Werke Georg Hermanns im Verlag Das Neue Berlin. Ein gut gemachter Band, den man gern in die Hand nimmt und mit Gewinn liest.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 01/97 (c) Edition Luisenstadt, 1997
www.berliner-lesezeichen.de

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