Eine Rezension von Karl-Heinz Arnold

Ansichten eines großen Chefs

François Mitterrand: Über Deutschland
Aus dem Französischen von Bernd Schwibs.
Insel Verlag, Frankfurt/M. 1996, 229 S.

Le grand chef nannten ihn seine engsten Mitarbeiter. In zwei Präsidentschaften seit 1981 hat er die Geschicke Frankreichs geleitet, seiner Nation stets zuerst verpflichtet, und ist zu einem herausragenden Politiker geworden, von europäischem Zuschnitt und internationalem Format. Stets hatte François Mitterrand ein besonderes Verhältnis zu Deutschland. Es wurde beeinflußt von seiner Gefangenschaft während des Zweiten Weltkriegs in Thüringen, von wo er fliehen konnte, und von seinem Kampf in der Résistance gegen die deutschen Besatzer. In der Hauptsache beruht es sicherlich auf tiefer Einsicht in die Geschichte des Kontinents, und es mündet in die Erkenntnis: „Das große Ereignis nach dem Krieg in Europa war die französisch-deutsche Annäherung.“

Wenige Monate nach seinem Tod am 8. Januar 1996 ist das Buch erschienen, in dem dieser Satz steht. Die Pariser Originalausgabe heißt übrigens, vollständig zutreffend, „Über Deutschland, Über Frankreich“. Es bietet eine faszinierende Lektüre: Mit den Augen des Staatsmanns blicken wir auf jene weltpolitischen Entwicklungen, die 1987 mit Gorbatschows Perestroika begannen, 1989 zur Wende in der DDR führten und 1990 die deutsche Einheit brachten. Dieses Thema, zeitlich keineswegs scharf eingegrenzt, trägt den ersten Teil des Buches. Er heißt „Frankreich und die Vereinigung Deutschlands“, ist ein ebenso weitgefaßter wie konzentrierter Exkurs in heiße Diplomatie, die mit kühlem Kopf betrieben werden mußte. In geschliffener Diktion, mit scheinbar leichter Hand, aus profunder Kenntnis historischer Details und Zusammenhänge ordnet Mitterrand die Ereignisse ein, die der Deutschlandpolitik eine neue Dimension gaben und höchste Priorität verschafften, sie in den Hauptstädten der Welt zur Chefsache machten.

Souverän und mit aufschlußreichen Einzelheiten äußert Mitterrand sich auch und speziell zu zwei Fragen, die nicht nur in seinem Land kontrovers diskutiert wurden: Wollte der Staatspräsident die deutsche Einheit hinauszögern, wenn nicht sogar behindern? Wie ist in diesem Zusammenhang sein Staatsbesuch in der DDR zu werten, zu dem er am 20. Dezember 1989 in Berlin-Schönefeld eintraf?

Die Antworten, die Mitterrand gibt, lassen die Kompliziertheit der Vorgänge und die Differenziertheit seiner Sicht erkennen. Noch wenige Tage vor Abfassung von Kohls 10-Punkte-Programm für die deutsche Einheit vom 28. November 1989 - als Antwort auf Modrows Regierungserklärung, der in dieser Sache die konstruktive Vorreiterrolle gebührt - hatte der Kanzler im engsten Kreis angemerkt, daß bis zur Verwirklichung der Einheit fünf bis zehn Jahre nötig seien. Wörtlich: „Selbst wenn die Einheit erst am Ende dieses Jahrhunderts erreicht werden sollte, wäre das ein Glücksfall der Geschichte.“ Mitterrand, der dies zitiert, hatte nicht den mindesten Grund, schneller als Kohl sein zu wollen. Er verhehlte nicht, schreibt er, „das Risiko, das Frankreich mit der wiedergefundenen Stärke seines mächtigen Nachbarn einging“.

„Doch die Geschichte beschleunigte sich“, stellt er fest. Und: „Wie George Bush hatte ich offen und freimütig die Perspektive der Einheit akzeptiert, die Margaret Thatcher wie Michail Gorbatschow umgingen. Wie Margaret Thatcher und Michail Gorbatschow, nachdem sie sich dem Unausweichlichen nicht mehr verschließen konnten, hatte ich gefordert, daß die Vereinigung unter allen ihren internationalen Aspekten geprüft werden müsse.“ Frankreichs spezielle Forderung war die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze. Mitterrand spricht klar von der „Meinungsverschiedenheit zwischen Helmut Kohl und mir hinsichtlich der Anerkennung der deutsch-polnischen Grenze“. Bonn sperrte sich. Erst am 14. November 1990 wurde der eindeutige Vertrag mit Warschau unterzeichnet. Die französische Beharrlichkeit hat einen großen Anteil daran. Auch aus solchen Zusammenhängen ist erklärlich, daß der stolze, durchgeistigte Franzose und der massige deutsche Macher nie jene gegenseitige Zuneigung empfunden haben, die eine Freundschaft ausmacht. Dies kam nicht von verschiedener Nationalität, sondern aus dem Individuellen.

Beim Staatsbesuch des Präsidenten in der DDR waren sowohl Honecker, dessen Besuch in Paris von 1987 eigentlich erwidert werden sollte, als auch dessen kurzzeitiger Nachfolger Krenz von der politischen Bühne verschwunden. Mitterrand aber hielt an seinem Programm fest. Gut gelaunt und fast demonstrativ frühstückte er mit Modrow im Palasthotel. Er war „neugierig, jenes Land kennenzulernen, in dem sich ein Teil des Schicksals Europas abspielte. Noch war die deutsche Einheit als Tatsache nicht besiegelt, mein Wunsch war, daß Frankreich dabei präsent sei und seine Rechte auf die ihm gemäße Art ausübe.“

... seine Rechte auf die ihm gemäße Art ausübe - eine subtile Abfuhr für kläffende Kritiker. „Die Opportunität meiner Reise zu diesem Datum wurde von einem Teil der deutschen, in der Folge auch von der französischen Presse nachhaltig in Frage gestellt.“ Die BILD-Zeitung „fragte sich, ob dies nicht ‚ein Schlag in den Rücken des Kanzlers‘ sei“. Und das Bonner Kanzleramt „äußerte sein Mißfallen über mein baldiges Eintreffen in Berlin, da damit die Gefahr bestand, daß ich dem Kanzler in seinem legitimen Wunsch, nach dem Fall der Mauer sich als erster westlicher Staatschef nach Ostdeutschland zu begeben, zuvor kam“. Kohl (exakt übrigens nicht Staats-, sondern Regierungschef) konnte allerdings „seine anderweitigen Verabredungen verschieben und mir um 24 Stunden zuvorkommen“ - er traf sich mit Modrow in Dresden. Amüsiert liest man solche und andere Geschichten aus dem Nähkästchen der großen Politik.

Eine der interessantesten Stellen in diesem Teil des Buches ist die ebenso prononcierte wie abgewogene Ehrenrettung Preußens, das von Hitler und von Stalin gehaßt wurde, sowie Friedrichs des Großen, den Mitterrand auch so nennt. Preußen, schreibt er, „dem nicht verziehen wurde, daß es auf den Schlachtfeldern seinen Gegnern das Fürchten gelehrt hatte. Der Fluch dauert an, so daß nur schwer Glauben findet, wer versichert, daß Berlin zu Zeiten seiner Größe Hauptstadt der Freiheit war, daß jeder, der seines Glaubens oder seiner Überzeugung wegen verfolgt wurde, sicher sein konnte, hier Schutz zu finden.“

Im zweiten Teil werden Auszüge von Interviews und Reden wiedergegeben, die „das Paar Frankreich-Deutschland“ zum Thema haben. Hier setzt Mitterrand sich auch mit der „Erbfeindschaft“ auseinander. Besonders bedeutsam ist die Ansprache am 8. Mai 1995 in Berlin, im Schauspielhaus am Gendarmenmarkt. Mitterrand, der den 8. Mai 1945 als Soldat im befreiten Paris erlebt hatte, findet 50 Jahre später unnachahmliche Worte, die gefallenen deutschen Soldaten zu ehren: „Sie waren tapfer. Sie nahmen den Verlust ihres Lebens hin. Für eine schlechte Sache, aber diese Heldentat hatte damit nichts zu tun. Sie liebten ihr Vaterland.“

Dem abschließenden Teil mit Schilderungen und Reflexionen aus der ersten Amtszeit Mitterrands merkt man besonders an, daß dieses Buch nach seinem Tod nicht durchgängig mit der notwendigen Sorgfalt fertiggestellt und ediert wurde. Beispielsweise springt die Chronologie von seiner Nahostreise 1985 auf 1981 zurück, zur Ermordung und Beisetzung des ägyptischen Präsidenten Sadat (den Mitterrand besonders würdigt, er hat „die Höhen der Geschichte erreicht“, ist nicht wie andere in der „Mediokrität“ steckengeblieben - Zeit seines politischen Lebens hat der französiche Präsident keine Mittelmäßigkeit gemocht). Einige Ungenauigkeiten sind zweifellos auf unexakte Informationen zurückzuführen. So hat vor der Öffnung des Brandenburger Tors am 22. Dezember 1989 der DDR-Ministerpräsident dem Bundeskanzler keineswegs angeboten, „die Zeremonie zu leiten“. Tatsächlich war es so:

Wir werden gemeinsam das Tor öffnen - mit diesem Tenor war das Ereignis zunächst zwischen Modrow und dem Westberliner Bürgermeister Momper besprochen, dann in Dresden mit Kohl verabredet worden. Die Reihenfolge der vier Redner - Modrow, Kohl, Krack, Momper - sowie die Redezeit von maximal zwei Minuten wurden erst am 21. Dezember telefonisch durch Mitarbeiter der beiden Regierungschefs auf dem Umweg über West-Berlin geklärt, der Beginn (15.00 Uhr) wurde von DDR-Seite festgelegt. Die Bonner Seite hat dann binnen einer Stunde ihre zwei Redner zugesagt, dann auf Reden verzichtet, was Modrow akzeptabel fand, dann wieder Kohl und Momper als Redner bestätigt. „Geleitet“ hat niemand, es sei denn pro forma Protokollchef Jahsnowski vom DDR-Außenministerium. Es regnete in Strömen. Die Volkspolizei hatte so lange wie möglich den Platz abgesperrt. Die vier Leute kamen von jeweils „ihrer“ Seite des Tors durch die dichtgedrängte Menge, Kohl wie ein Chefarzt auf Visite mit einem Rattenschwanz politischer Schickeria. Die vier bestiegen ein schlichtes Podest aus rohem Holz und sprachen nacheinander wie vorgesehen.

An einigen Stellen hätte man sich richtig geschriebene Namen gewünscht, zum Beispiel Döberitz und Gerhard Beil, sowie treffendere Übersetzung. So wird im Zusammenhang mit dem 17. Juni 1953 Brechts berühmtes Gedicht „Die Lösung“ zitiert mit dem Hinweis auf „die Impertinenz eines Brecht“. Gemeint hat Mitterrand zweifellos die beißende Ironie eines Brecht. Dergleichen aber tut dem Buch keinen Abbruch. Es ist ein Zeugnis europäischen Geistes und bester französicher Tradition. Es gehört zum politischen Vermächtnis des Staatsmanns Mitterrand. An einer Stelle schreibt er: „Mag die Seiten überspringen, wen es langweilt.“ Dies ist unmöglich.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 10+11/96 (c) Edition Luisenstadt, 1996
www.berliner-lesezeichen.de

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