Eine Rezension von Gerhard Keiderling

Kriminalität in der Umbruchphase nach 1945

Ernst Reuß: Berliner Justizgeschichte
Eine rechtsstaatliche Untersuchung zum strafrechtlichen
Justizalltag in Berlin von 1945-1952, dargestellt anhand der
Strafgerichtsbarkeit des Amtsgerichts Berlin-Mitte
(Berliner Juristische Universitätsschriften, Grundlagen des Rechts, Bd. 17).
Berlin Verlag Arno Spitz, Berlin 2000, 435 S.

Als Gegenstand der vorliegenden Untersuchung nennt der Verfasser, der mit dieser Arbeit im Jahr 2000 an der Juristischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin promovierte, „das soziale Phänomen der Kriminalität sowie deren Ursachen und Ahndung in Umbruchphasen“. Berlin hat er als Untersuchungsobjekt nicht nur der günstigen Quellenlage wegen gewählt, sondern weil sich in der viergeteilten Hauptstadt Ausmaß und Vielfältigkeit der zeitbedingten Kriminalität ebenso manifestierten wie die divergenten Gesellschafts- und Rechtsauffassungen der vier Siegermächte. Die Einmaligkeit dieses Schauplatzes bewog den Verfasser zu einem umfassenden Unternehmen: Einerseits reizte ihn der „Versuch der Errichtung einer einheitlichen Justiz unter verschiedenen Gesellschaftssystemen“, der aufgrund der Spaltung Berlins schon 1948 scheiterte, andererseits und hauptsächlich lag ihm die „Untersuchung des strafrechtlichen Justizalltags“ der Nachkriegszeit am Herzen. „Ein Amtsgericht ist deshalb ein gutes Fallbeispiel, weil nur dort die Bagatellkriminalität abgeurteilt wurde.“

Das Buch gliedert sich in fünf Kapitel: Der Wiederaufbau der Gerichtsorganisation in Berlin nach 1945; eine Analyse der Gerichtsakten des Amtsgerichts Berlin-Mitte (sowjetischer Sektor) für den Zeitraum 1945-1952; die strafrechtliche Bewältigung der unmittelbaren Nachkriegskriminalität 1945/46; die Spaltung der Berliner Justiz Anfang 1949 und eine „Aktenanalyse der Fälle nach der Justizspaltung“, die der Verfasser nur auflistet. Es schließt sich ein umfänglicher Anhang an, bestehend aus statistischer Auswertung, Geschäftsverteilungsplänen des Amtsgerichts Berlin-Mitte, Dokumenten und Literaturverzeichnis. Zahlreiche Tabellen und Grafiken ergänzen anschaulich den Text.

Das erste Kapitel „Die Rolle der Strafjustiz in Umbruchzeiten“ ist irreführend betitelt, denn behandelt wird der Wiederaufbau des Berliner Justizsystems im allgemeinen und des Amtsgerichts Berlin-Mitte im besonderen. Den Umbruch begreift der Verfasser als „Transformation einer Justiz unter faschistischer Diktatur zu einer Nachkriegsjustiz unter gänzlich anderen Vorzeichen“. Mit dieser schwammigen Definition läßt sich die Entwicklung der Berliner Justiz nach 1945 macht- wie rechtspolitisch nicht überzeugend erklären.

Im zweiten Kapitel erfolgt eine Analyse der insgesamt 2 745 ausgewerteten Akten des Amtsgerichts Berlin-Mitte bezüglich der Verfahrensart, wie Strafbefehl, Verbrechen, Vergehen oder Privatklage, aufgeschlüsselt nach angewandten StGB-Paragraphen, sowie der Strafzumessung. Die strafrechtliche Bewältigung der unmittelbaren Nachkriegskriminalität ist Thema des dritten Kapitels. Als typische Fälle werden u. a. behandelt Wirtschafts- und „Hungervergehen“, Diebstähle, Schwarzhandel, Delikte mit sexuellem Hintergrund (Prostitution), Obdachlosigkeit und asozialer Lebensweise. Das Problem, ob und wie die Justiz mit den in der allgemeinen Notlage straffällig gewordenen Bürgern „gerecht“ umgehen solle, wird angesprochen. Auch wenn „obrigkeitliche Einflußnahmen“ auf die Rechtsprechung nachgewiesen werden, so urteilten „bei der Strafzumessung oft milde, verständige Richter“.

Das vierte Kapitel beschäftigt sich mit der Spaltung der Berliner Justiz, die „aufgrund der diametral unterschiedlichen Weltanschauungen der Sowjets einerseits und der Westalliierten andererseits letztlich wohl unvermeidlich“ war und im Februar 1949 vollzogen wurde. Im weiteren wird nur die Ostberliner Justiz behandelt: ihre Integration ins DDR-Justizsystem und der Einsatz von „Volksrichtern“. Die nach 1949 vom Amtsgericht Berlin-Mitte verhandelten Fälle betrafen zumeist die bekannte Nachkriegskriminalität. Durch den Kalten Krieg hinzugekommene Straftaten waren politisch gewertete Vergehen, wie Verstöße gegen die Staatsgewalt, gegen Währungsbestimmungen, gegen „Volkseigentum“ sowie Diebstähle von Buntmetall, das mittels des Wechselstubenkurses gewinnbringend in West-Berlin verkauft wurde. Der Verfasser hat mit studentischer Hilfe ein großes Arbeitspensum bei der Auswertung der Akten absolviert. Die von ihm untersuchte Bagatellkriminalität beleuchtet von juristischer Seite her die Nachkriegssituation. Doch der eingangs zitierte Vorsatz, am Berliner Justizsystem ein „Miniaturbild des Kalten Krieges“ zu geben, bleibt weitgehend unerfüllt. Der Verfasser räumt selbst ein: „Leider läßt sich mangels Akten nicht eruieren, inwieweit der Kalte Krieg auch in den westlichen Sektoren zum Ausdruck kam und ob bzw. inwieweit dort versucht wurde, die Justiz zu instrumentalisieren, um den ‚Kampf der Systeme‘ letztlich siegreich zu gestalten.“

Da heutzutage Verlage aus Kostengründen Fachbücher kaum noch lektorieren, trägt der Verfasser eine besondere Verantwortung für die wissenschaftliche Akribie seines Produktes. Im vorliegenden Falle zeigen sich Fehler und Mängel, die man in einer gedruckten Doktorarbeit nicht erwartet. Daß die Kapitulation Hitler-Deutschlands nicht in Reims, sondern in Berlin-Karlshorst vollzogen wurde, daß Frankreich schon in Jalta 1945 in den Kreis der alliierten Siegermächte aufrückte, daß der Allierte Kontrollrat und nicht die Alliierte Kommandantur der Stadt Berlin ins Kammergerichtsgebäude in der Elßholzstraße einzog, steht in jedem besseren Geschichtsbuch. Zu den dürftigen Angaben über den Forschungsstand gesellt sich ein verblüffender Verzicht auf die Benutzung von Standardliteratur zur Berliner Nachkriegsgeschichte. Hätte der Verfasser das Programm seines Verlages aufmerksam durchgesehen, wäre er auf wichtige Titel zu seinem Thema gestoßen, vor allem auf die zweibändige Dokumentation über den Berliner Magistrat 1945/46. Im Literaturverzeichnis wird der Historiker Ernst Deuerlein zu einem „Deuterlein“, und der Mannheimer DDR-Forscher Hermann Weber bekommt den neuen Vornamen „Herrmann“. Grotesk ist auch, daß der US-Stadtkommandant Howley nicht nach seinen Memoiren, die in jeder Westberliner Bibliothek einzusehen sind, zitiert wird, sondern nach einem „SED-Machwerk“ namens „Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung“ aus dem Jahre 1966. Wahrscheinlich war der Verfasser darüber selbst so erschrocken, daß er „vergaß“, es als benutzte Literatur aufzuführen.

Trotzdem bleibt eine interessante Untersuchung, die - entgegen dem vollmundigen Buchtitel - als ein Baustein zur Berliner Justizgeschichte zu werten ist.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 08/01 (Internetausgabe) (c) Edition Luisenstadt, 2001
www.berliner-lesezeichen.de

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