Eine Rezension von Volker Strebel

3 x Jan Patočka

Eugen Fink/Jan Patočka: Briefe und Dokumente 1933 - 1977
Herausgegeben von Michael Heitz und Bernhard Nessler.
Karl Alber Verlag, Freiburg/München 1999, 190 S.

Jan Patočka: Texte - Dokumente - Bibliographie
Herausgegeben von Ludger Hagedorn und Hans Rainer Sepp.
Karl Alber Verlag, Freiburg/München 1999, 790 S.

Jan Patočka: Vom Erscheinen als solchem
Herausgegeben von Helga Blaschek-Hahn und Karel Novotný.
Karl Alber Verlag, Freiburg/München 2000, 313 S.

Einem breiteren Publikum ist bekannt, daß Jan Patočka (1907 - 1977) einer der ersten drei Sprecher der tschechoslowakischen Bürgerrechtsbewegung CHARTA 77 war - und zugleich deren erstes Opfer. Nach vielstündigen Verhören mit der Polizei starb der Philosoph Jan Patočka am 13. März 1977 an einem Herzversagen. Sein Satz „Es gibt Dinge, für die es sich zu leiden lohnt“ hatte auch in anderen Ländern des „real existierenden Sozialismus“ Menschenrechtler beeindruckt und mit neuen Kräften versehen.

Zum Tode von Jan Patočka hatte der bedeutende Literaturwissenschaftler Roman Jakobson in seinem Nekrolog die epochale Bedeutung des philosophischen Lebenswerkes von Jan Patočka hervorgehoben: „Drei tschechische Philosophen besaßen Weltruf, verfügten über moralische Autorität und führten ein außergewöhnliches Leben: Jan Amos Comenius, Tomáš Garrigue Masaryk und Jan Patočka.“

Die Folgen des Kalten Krieges waren vor allem für den östlichen Teil Europas verheerend. Unzählige Lebensläufe wurden von der Ideologie des „realen Sozialismus“ vernichtet. Lediglich offenkundige Verbrechen werden in heutiger Zeit geahndet, Historikerkommissionen beleuchten politische Hintergründe, und Archive werden gesichtet.

Jan Patočka verkörpert ein Opfer dieser Zeit und stand dennoch nie im Rampenlicht. Es ist ungeheuerlich, mit welcher Ignoranz die Machthaber in seiner Heimat über Jahrzehnte diesen universal gebildeten Mann marginalisiert hatten. Und ebenso unglaublich ist, mit welcher Duldsamkeit Jan Patočka dieses ihm auferlegte Schicksal parierte. Jan Patočkas Leben stellt eine tragische Geste dar, und um so eindrucksvoller gestaltet sich der vorliegende Einblick in die unermüdliche Denkarbeit, welcher er sich über all die Jahrzehnte ausgesetzt hatte. Jan Patočka hat seine Zeit genutzt, wiewohl er in seinem Land sowohl publizistisch als auch, was die Lehrtätigkeit betrifft, kaum zum Zuge gekommen war.

Suchte man nach dem Paradigma eines anständigen Menschen, drängt sich der Gedanke an Jan Patočka auf. Er selbst hätte sich so nicht gesehen. Bescheidenheit war bei Patočka keine leere Phrase, sondern auch Ergebnis seiner langjährigen philosophischen Forschungen. Provokation empfand er als Anmaßung. Frappierend, wie er im lesenswerten Briefwechsel mit seinem Studienkollegen Eugen Fink einen philosophischen Gedanken andeutet und gleichzeitig dessen mögliche Verfehlung einberechnet. Einer, der sich über Jahre hin den Kopf zerbricht und ein Irren immer mitbedenkt. So etwas konnte das Dogma marxistisch-leninistischer Unfehlbarkeit nicht gebrauchen und paßt auch heute nicht in unsere Zeit halbgebildeter Geschwätzigkeit, wo geschickt drapiertes Selbstbewußtsein den Mangel an Substanz überdeckt.

Als bekennender Böhme fristete Jan Patočka ein äußerst bescheidenes Dasein in Prag. Seine Wohnung in der Nähe des geschichtlich bedeutsamen „weißen Berges“ im Prager Westen ließ ihn immer wieder über die Vergänglichkeit der Mächtigen sowie die Beständigkeit aufrichtigen Willens nachdenken. „Geschichte“ setzt dann ein, wenn der Sinn des menschlichen Lebens schlechthin fraglich geworden ist. In dieser entstehenden Offenheit entdeckt der Mensch den Sinn für sein Da-Sein, bürgt Verantwortung für eine wache Existenz. „Lebenswelt“ war einer der zentralen Begriffe in Jan Patočkas Philosophie, und damit stellte sich Patočka immer auch dem launigen Schicksal der menschengemachten Geschichte.

Von Edmund Husserl, dem Begründer der „Phänomenologie“ - der wohl einflußreichsten philosophischen Strömung des zwanzigsten Jahrhunderts - ist eine Einschätzung des Philosophiestudenten Patočka überliefert. Eugen Fink schreibt an den jungen Prager Kommilitonen: „Husserl rechnet unbedingt mit Ihnen, weil er in Ihnen den unbedingten Erkenntniswillen entdeckt zu haben überzeugt ist, der vielleicht eine Ungeheuerlichkeit gegen das Leben, aber das unerläßliche Wesen der philosophischen Existenz ist.“ Bemerkenswert ist, daß sich Jan Patočka als Meisterschüler von Edmund Husserl im Prag der dreißiger Jahre für die Verbreitung der „phänomenologischen Methode“ verwendet und diese Aufgabe eigentlich ein Leben lang durchgehalten hat, obwohl er sich gleichzeitig im philosophischen Denken und Fragen weiterentwickelt hat. Zu Husserls Forschungen kamen die Denkwege Martin Heideggers hinzu, und Jan Patočka verband beide Ansätze zu einem philosophischen Plädoyer, die authentische Lebenswelt ernst zu nehmen. Hier schimmert jener Vitalismus Böhmens durch, der auch dessen metaphernreiche Dichtung auszeichnet.

Die Namen von Jan Patočkas Schülern, die in privaten Wohnungen seine Vorlesungen hörten, geben der heutigen modernen tschechischen Philosophie ihr spezifisches Gepräge: Pavel Kouba, Ivan Chvatík, Filip Karfík, Jiří Polívka, Miloslav Bednář und andere. Es sind auch diese ehemaligen Schüler für die umsichtige Ordnung des Nachlasses von Jan Patočka verantwortlich. Vor allem der Band Vom Erscheinen als solchem, der Texte aus dem Nachlaß Patočkas versammelt, verdankt einer kritischen Begleitung seinen Zugang. Alle drei Bände dieser Jan-Patočka-Reihe sind in enger Zusammenarbeit mit dem Jan-Patočka-Archiv des Prager „Center for Theoretical Study“ (Karls-Universität Prag und Tschechische Akademie der Wissenschaften) entstanden. Vorzüglich ediert und mit einem hervorragenden Apparat versehen, dokumentieren diese Bände die gelungene Bergung eines unverzichtbaren europäischen Denkers!


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 08/01 (Internetausgabe) (c) Edition Luisenstadt, 2001
www.berliner-lesezeichen.de

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