Eine Rezension von Thomas Böhme

Vom Glück, geliebt zu werden

Detlev Meyer: Das Sonnenkind
Roman.
Aufbau-Verlag, Berlin 2001, 188 S.

„Berliner Jungs / - man weeßet -/ die sind richtich.“ So beginnt ein Gedicht Detlev Meyers aus dem Jahr 1990. Carsten Scholze, beinah zehn Jahre alt und im Berliner Stadtteil Neukölln aufwachsend, ist es auf jeden Fall. Carsten Scholze ist das „Sonnenkind“ aus Detlev Meyers gleichnamigem autobiographischen Roman, der nun anderthalb Jahre nach Meyers Aids-Tod im Aufbau-Verlag erschienen ist. Daß ihn quasi postum noch einmal ein großer Verlag für sich „entdeckt“ hat - Meyers letzte Publikation zu Lebzeiten erschien im leider viel zu wenig wahrgenommenen Verlag MännerschwarmSkript -, war ihm zu wünschen. Daß er es nicht mehr erleben durfte, gehört zu den Ärgernissen des deutschen Buchmarktes, wo lebende schwule Autoren in auflagenstarken Verlagen noch immer die Ausnahme sind (Tendenz sinkend).

Das Sonnenkind hat allerdings auch mit dem schwulen Leben, das Meyer in allen übrigen Büchern thematisiert hat (erwähnt seien nur die 3 Bände der Biographie der Bestürzung, - Eremiten Presse/Fischer Taschenbuch Verlag), nicht viel zu tun. Keine „prägenden Erlebnisse“, keine „Verführungen“, wie sie Laienpsychologen gern für homosexuelle Biographien ausmachen, haben den aufgeweckten und naseweisen Buben - zumindest bis ins durchsonnte Jahr 1960 - bedrängt. Und der Herr Herbst, der gelegentlich mit schönen Jünglingen im Truseweg bei seinen altjüngferlichen Tanten absteigt, was immerhin das Vorhandensein jenes anderen Lebens andeutet, ist nur eine von vielen Randfiguren, die in Carstens wohlgeordneter Welt ihren festen Platz haben. Zu diesem kleinen Kosmos gehören zuerst die Eltern und der siebzehnjährige Bruder Stephan, der gerade seine ersten sexuellen Erfahrungen mit einem Mädchen sammelt, und die Großeltern, die im selben Haus in der Beletage wohnen. Zu seinem Großvater Max Wollin hat Carsten ein besonders enges Verhältnis, das auch nicht getrübt wird durch die gelegentlichen Seitenhiebe seines Vaters gegen den strammen Parteigenossen, der Wollin einst gewesen sei. Und daß sich Max Wollin seit dreißig Jahren eine Geliebte hält - Fräulein Reeskow gehört so gut wie zur Familie -, macht ihn nur noch interessanter. Am schönsten aber ist es, wenn Carsten am Ku'damm seine Limonade aus einem Cognacschwenker trinken darf. Die Geschichte der Großeltern, Else Wollin gar mit adeligem Stammbaum, auf den sie sich einiges einbildet, wird in zahlreichen Rückblenden aufgedröselt, so daß sie gleichrangig neben Carstens eigenen Erlebnissen steht. Die Hypochondrie der Großmutter, ihre Affinität zu „höheren“ Ständen, auch wenn es sich nur um den Hausarzt mit Grafentitel im Namen handelt, die Geplänkel mit der glücklosen Freundin aus dem Osten Berlins, Berta Barbe (den Namen bitte französisch auf der zweiten Silbe betonen!) - all das schafft die Atmosphäre, in der Carsten sich wohl fühlt, auch wenn er genauso gern mit seinen Eltern zusammen ist oder mit Stephan und dessen Freunden, die es sich in den Kopf gesetzt haben, ein Hörspiel zu produzieren. Von Berta Barbe stammt übrigens der Ausdruck „Sonnenkind“, was Carsten, der sich von jedem geliebt wissen will, sicher mehr freute, wenn ihn der Hausmeister nicht damit aufziehen würde. Sonst ist Carsten nämlich immer für Komplimente zu haben, und Bescheidenheit gehört nicht unbedingt zu seinen Tugenden. Daß man ihn für einen hellen Kopf hält, ist für ihn selbstverständlich. Begierig schnappt er jedes neue Wort auf und brennt auf eine Gelegenheit, es bei seinem gutmütigen und etwas langweiligen Freund Peter Lenz anzubringen.

So könnte dieses Leben endlos weitergehen. Carsten „möchte für immer Kind sein, nie die Eltern verlassen, nie vom Truseweg wegziehen. (...) Nein, groß werden will er nicht. Einerseits. Andererseits verspürt er keinen anderen Wunsch, als sein Ränzlein zu schnüren und in der weiten Welt sein Glück zu machen, wie es in den Märchen heißt“. Doch ist es nicht schon märchenhaft genug, von allen umsorgt, beachtet und verwöhnt zu werden, von Krieg und Notzeiten nur aus den Erzählungen der Erwachsenen zu wissen und überhaupt einer fabelhaften Sippe anzugehören, die so ganz eigen ist und dennoch ihren unverrückbaren Platz auf der Sonnenseite des Lebens inne hat, nicht wie die armen „Brüder und Schwestern“ im Osten der Stadt, die sich sonntags an den Auslagen des Ku'damms die Nasen plattdrücken.

Erst als sein Großvater an Darmkrebs erkrankt, macht Carsten seine erste Erfahrung von der Vergänglichkeit des Glücks. Nichts ist mehr so wie früher. Wochenlang traut sich Wollin mit dem künstlichen Darm nicht unter die Leute, und später die paar Taxifahrten, zu denen er sich seinem Enkel zuliebe noch aufraffen kann, ersetzen nicht die noblen Ausflüge an den Ku'damm. Carstens zehnten Geburtstag werden sie nicht mehr zusammen feiern, Max Wollin stirbt am Ende dieses Sommers im Beisein von Frau, Tochter und Geliebter. „Charmant, wie er immer war“, hätte Else Wollin gesagt, und da er keiner der beiden Rivalinnen beim „Adieu“ den Vorzug gibt, hätte sie noch hinzugefügt: „Comme il faut“.

Carsten darf sich mit einem neuen Fahrrad über den Schmerz hinwegtrösten. „Mein Opa ist tot“, denkt Carsten, „und mein Fahrrad hat die lauteste Klingel von Berlin.“ Das mag allenfalls den sensiblen Komponisten Eduardo Lehmann stören, der gehört auch zum Truseweg 12, und zum Ausgleich für dieses lärmdurchwaberte Haus wird er ein bißchen mit Carstens Mutter flirten. So ist das letzte Buch Detlev Meyers, geschrieben gegen den eigenen Verfall und in der Gewißheit des nahen Todes, vor allem ein Hymnus auf die Farben des Lebens, zu denen das Schwarz eben mit dazugehört. Doch der Grundton, ein heiteres B-Dur (B für Berlin), wird bis zum Ende durchgehalten. Und wieder fällt mir ein Gedicht ein, das Meyer acht Jahre zuvor auf den Tod eines Freundes geschrieben hatte. Sein Titel ist „Ganz schön traurig“, und es beginnt so: „Wo du jetzt bist, da wird es niemals regnen / und selbstverständlich ist es niemals kalt. / Ein junger Gott wird deine Wohnstatt segnen ...“

Wer Das Sonnenkind liest, weiß, Detlev Meyer hat das Glück, geliebt zu werden, als Kind genossen, und wenn man seine anderen Bücher kennt, weiß man, daß ihm dieses Glück weitgehend treu geblieben ist. Er hat auf seine Weise dafür gedankt mit Gedichten und Geschichten über die Liebe, und zwar mit solchen, die so selten im deutschsprachigen Raum sind: humorvoll, verspielt, ironisch und mit einer Nuance Melancholie.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 08/01 (Internetausgabe) (c) Edition Luisenstadt, 2001
www.berliner-lesezeichen.de

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