Eine Rezension von Thomas Böhme

Zwischen Thingspiel und „Innerer Emigration“

Hans Sarkowicz/Alf Mentzer: Literatur in Nazi-Deutschland
Ein biografisches Lexikon.
Europa Verlag, Hamburg/Wien 2000, 384 S.

Literatur in Nazi-Deutschland — ein biografisches Lexikon von Hans Sarkowicz und Alf Mentzer ist in seiner Art, wie der Klappentext verspricht, konkurrenzlos, denn die bisher erschienenen Publikationen zum Thema beschränken sich in der Regel auf die eine oder andere Gruppierung, etwa auf die eigentliche Naziliteratur, auf „Innere Emigration“ bzw. auf verfolgte und verfemte Autoren. Daneben steht die häufig unwidersprochene These, die wesentliche deutsche Literatur zwischen 1933 und 1945 sei ohnehin im Exil entstanden. Sarkowicz/Mentzer verstehen ihre Arbeit auch nicht als polemisch, vielmehr stellen sie in 120 Biographien Leben und Werk so unterschiedlicher Schriftsteller wie Gottfried Benn, Werner Bergengruen, Gerhart Hauptmann, Hanns Johst, Agnes Miegel oder Ernst von Salomon nebeneinander und beschränken sich auf eine, allerdings äußerst umfangreiche und wertende Einleitung.

Dieser einleitende Kommentar verdient insofern Beachtung, als er nicht nur Positionen und Funktionen etlicher im Lexikon-Teil vorkommender Autoren beleuchtet, sondern auch das System der allmählichen Gleichschaltung bis hin zur totalen Überwachung mittels der durch den NS-Staat geschaffenen Organisationen (wie die „Reichsschrifttumskammer“) durchschaubar macht. Er zeigt, wie gering der Spielraum für jene Schriftsteller war, die sich nicht nur zum Bleiben in Deutschland entschieden hatten, sondern auch ihren Beruf weiter ausüben wollten. Zivilcourage wie die von Ricarda Huch oder Ernst Wiechert blieb die Ausnahme. Zugleich gewähren sie einen Einblick in die Verlagslandschaft jener Jahre, zeigen anhand ausgewählter Beispiele (S. Fischer, Rowohlt, Insel), wie sich manche Verleger zwischen Anpassung und vorsichtiger Opposition eine Zeitlang noch auf dem schmalen Grat der Legalität bewegen konnten, während sich andere (Ullstein, Langen Müller, Bertelsmann) bedenkenlos in die Propagandamaschinerie einspannen ließen und daraus profitierten. Anhand der Geschichte des Börsenvereins Deutscher Buchhändler weisen sie Opportunismus und vorauseilenden Gehorsam nach. Zugleich räumen sie mit dem weit verbreiteten Klischee auf, daß alles, was in Nazideutschland zwischen zwei Buchdeckeln gedruckt wurde, entweder Propaganda oder aber Trivialliteratur war. Autoren, die den Nazis durchaus suspekt waren, wie der in der Schweiz lebende Hermann Hesse oder Oskar Loerke, konnten weiterhin publizieren, ebenso jene, die nur zu Beginn der Machtergreifung ihre Ergebenheit kundgetan hatten, und sich später distanzierten (Ernst Jünger) oder sogar in direkte Konfrontation mit dem NS-Staat gerieten (Ernst Wiechert). Bemerkenswert auch der Exkurs über die jüdischen Verlage (Schocken Verlag u. a.), von denen einige noch bis Anfang der vierziger Jahre, wenn auch unter immer größeren Repressalien und eingeschränkten Vertriebsmöglichkeiten, produzieren konnten. Noch 1938 erschien z. B. in Berlin ein Gedichtband der jüdischen Dichterin Gertrud Kolmar, die 1943 deportiert und ermordet wurde.

Geradezu spannend liest sich jener Abschnitt, der sich mit der Kontinuität der Buchpublikation vom Dritten Reich hin zur frühen Bundesrepublik beschäftigt. Diese Kontinuität bezog sich sowohl auf erfolgreiche Verlagsgruppen (Bertelsmann) als auch auf die überwiegende Zahl der Autoren, die, egal, wie eng sie dem Faschismus verbunden waren, schon bald wieder ihre Stimme erheben durften. Viele von ihnen reklamierten im nachhinein den Begriff „Innere Emigration“ für sich (Walter von Molo, Frank Thiess), während andere unverhohlen der nationalsozialistischen Vergangenheit nachtrauerten und sich neue Organisationen und Vertriebsnetze schufen (Herbert Böhme, Will Vesper). Bis in die sechziger Jahre hinein dominierten sie nicht nur den offiziellen Literaturbetrieb, sondern auch die (west)deutschen Lesebücher, was u. a. ein Grund dafür war, daß viele der ehemaligen Emigranten ihre ersten Nachkriegsveröffentlichungen und bisher nur im Ausland erschienenen Bücher in der DDR drucken ließen bzw. in den Ostteil Deutschlands zurückkehrten (Anna Seghers, Bertolt Brecht). Erst mit dem Heranwachsen einer neuen Autorengeneration und in Folge der 68er Bewegung setzte eine zunehmend kritische Auseinandersetzung mit dem literarischen Erbe der jüngsten Vergangenheit ein.

Das Autorenlexikon mit seinen Kurzbiographien, Textauszügen und Bibliographien macht mit fast 300 Seiten den Hauptteil des Buches aus. Neben den repräsentativen Gestalten der in Deutschland zwischen 1933 und 1945 erschienenen Literatur enthält es auch Namen, die eigentlich erst der Nachkriegsgeneration zugerechnet werden, deren Debüts und erste Veröffentlichungen aber in die NS-Zeit fallen (Günter Eich, Karl Krolow und Johannes Bobrowski), ebenso Namen von erst später emigrierten Dichtern, von denen einzelne Titel noch in Nazideutschland erscheinen konnten (Mascha Kaléko, Stefan Zweig). Die Länge der einzelnen z. T. bebilderten Beiträge variiert stark und ist in den meisten Fällen der Bedeutung des Autors oder seiner Rolle im Literaturbetrieb angemessen, wie etwa die ausführlichen Darstellungen über Gerhart Hauptmann, Hans Fallada, Ernst Jünger oder Erich Kästner. Auch die Lebenswege der Schriftsteller, die sich an leitenden Stellen im NS-Kulturbetrieb befanden (Hans Friedrich Blunck, Hanns Johst) und/oder selbst aus nationalsozialistischer Gesinnung heraus schrieben, werden einer differenzierten Betrachtung unterzogen. Nicht selten stoßen die Autoren selbst bei einst glühenden Anhängern der Nazis auf Brüche und spätere Abkehr oder zumindest Distanz, wobei sie den wahren Beweggründen dafür nachgehen, etwa Rivalitäten innerhalb des nationalsozialistischen Lagers, religiöse Bekenntnisse oder taktische Erwägungen (Arnolt Bronnen, Hans Heinz Ewers, Hans Grimm). Und gelegentlich korrigieren sie allzu glatte Lebensläufe (Alfred Andersch, Heimito von Doderer), wo sich nachweisen läßt, daß Verstrickungen oder Opportunismus in ihnen eine Rolle gespielt haben, ohne daß es um sensationelle Enthüllungen geht, da sie sich an bereits erschlossenes Material halten.

Leider weist das Lexikon einige gravierende und einige bedauerliche, wenn auch läßliche Lücken auf. Bei den gravierenden kann man auch schlecht das Argument der Autoren gelten lassen, sie hätten aus über 500 Namen auswählen müssen. So fehlen aus unerfindlichen Gründen die Namen Ernst Bertram und Ernst Barlach, von denen der erste immerhin mit Teilen seines Werkes im Kanon der NS-Literatur auftaucht, während Barlach nicht nur als bildender Künstler, sondern auch als Schriftsteller unter den Verfemten und in die Isolation Getriebenen eine herausragende Stellung einnimmt.

Vermißt habe ich auch den seinerzeit viel gelesenen Ernst Penzoldt und Heinrich Spoerl, dessen Popularität nicht zuletzt durch die zahlreichen Verfilmungen enorm war. Der Jugendbuchautor und Abenteuerschriftsteller Fritz Steuben gehörte wenigstens erwähnt, wie leider der Kinder- und Jugendliteratur im Dritten Reich so gut wie keine Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Andere Namen, die das Lexikon unterschlägt, hätten womöglich den Umfang noch nicht gesprengt, den Anspruch auf ein Standardwerk aber erhärtet: Peter Bamm, Rolf Italiaander, Walter Bauer, Kurt Heynicke (der bedeutende Expressionist trat später u. a. als Verfasser mehrerer Thing-Spiele in Erscheinung!). Streiten ließe sich, ob der schon 1933 gestorbene Stefan George wegen seiner enormen Ausstrahlung sowohl auf nationalistische wie auch auf dem Widerstand zuzurechnende Dichter und Intellektuelle nicht hätte Aufnahme finden müssen. Streiten ließe sich auch über Namen wie Hanns Henny Jahnn ( der sich selbst nie als Emigrant im eigentlichen Sinn empfand und sich bis 1945 um Publikation in Deutschland bemühte), Ernst Gläßer, der sich nach Rückkehr aus dem Exil in den Dienst der NS-Propaganda stellte, oder die dem Widerstand angehörenden Schriftsteller Werner Krauss (in Deutschland zum Tode verurteilt) und Adam Kuckhoff (1943 in Berlin hingerichtet).

Sieht man von diesen Unterlassungen einmal ab, ist der Band allerdings für jeden am Thema Interessierten unbedingt zu empfehlen.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 08/01 (Internetausgabe) (c) Edition Luisenstadt, 2001
www.berliner-lesezeichen.de

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